Italiens Stehaufmännchen vor Gericht

In Palermo muß sich Italiens langlebigster Drahtzieher, Giulio Andreotti, wegen mafioser Bandenbildung und Anstiftung zum Mord verantworten / Verteidigung sucht gefälligeres Gericht  ■ Aus Rom Werner Raith

Während der Vertrauensabstimmung für die neue Regierung Italiens trauten die Reporter ihren Augen nicht. Wie aus dem Nichts gezaubert stand da wieder ein altes Männlein vor ihnen, das sie schon fast vegessen hatten, und zischelte ihnen zu: „Ich glaube, ich habe dem Land noch allerhand zu geben.“ So meldete sich Giulio Andreotti, 76 Jahre alt und siebenmaliger Ministerpräsident, in die Politik zurück und kündigte seine Unterstützung für die neue Regierung Dini an. Als sei da nichts anderes, insbesondere nicht jenes Verfahren, das das Männlein in den nächsten Tagen in ganz anderer Weise noch einmal ins Rampenlicht bringen wird: Ab heute soll der „ewige Fuchs“, das politische Stehaufmännchen par excellence, in Palermo vor Gericht erscheinen, das darüber befinden muß, ob die von der Staatsanwaltschaft erhobene Anklage wegen Beihilfe zur Bildung einer mafiosen Vereinigung und Anstiftung zum Mord zugelassen wird.

Die Beweise, die die Ankläger in mehr als 1.700 Seiten Dokumenten, Verhören, Telefonmitschnitten und Lauschangriffen auch bei Andreottis engsten Vertrauten zusammengetragen haben, sollen ein umfassendes Bild einer schillernden Persönlichkeit geben: Hier der Vollblutpolitiker, der seit Kriegsende bis zum Ende seiner letzten Ministerpräsidenten-Amtszeit ununterbrochen mit an der Macht war (unter anderem 33mal als Minister, von den Finanzen über die Verteidigung bis zum Außenressort), auf der anderen Seite der düstere Freund hochrangiger Mafiosi, der sich gar mit dem obersten Boß der Cosa Nostra, Salvatore „Toto“ Riina, getroffen haben soll, während dieser steckbrieflich gesucht im Untergrund lebte.

Wangenküsse mafioser Art, wie er sie bei der Begrüßung mit Riina getauscht haben soll, werden von mehreren ehemaligen Mafiosi in allen Einzelheiten geschildert. Andreottis Verteidigung, er sei doch seit Jahrzehnten rund um die Uhr von Eskorten begleitet gewesen und habe sich daher mit dem Mann gar nicht unbemerkt treffen können, hat die Staatsanwaltschaft bereits demontiert – am fraglichen Tag klafft in den Eskorteprotokollen eine Lücke von sechs Stunden. Zudem sollen Freunde Andreottis die damaligen Beamten zu Falschaussagen anzustiften versucht haben. Nach Aussagen der Kronzeugen soll auch der Mord an dem Enthüllungsjournalisten Mino Pecorelli in Rom von Freunden Andreottis angeordnet worden sein, weil der Pressemann illegale Transaktionen des christdemkratischen Politikers schildern wollte.

Mitverwickelt in die Verfahren ist auch ein weiterer Vetrauter Andreottis, der bis 1994 waltende Vorsitzende des Ersten Senats des Kassationsgerichts (vergleichbar dem deutschen Bundesgerichtshof), Corrado Carnevale. Im Pressejargon wird er „Urteilskiller“ genannt, weil er unzählige Strafen für Mafiosi und andere Dunkelmänner (auch Rechtsterroristen) aufgehoben oder die Freilassung inhaftierter Oberbosse angeordnet hatte. Er soll von den Clans direkt für die „Berichtigung“ von Prozessen bezahlt worden sein und des öfteren auf direktes Geheiß Andreottis Urteile verändert haben.

Andreottis Verteidiger wollen nun zunächst den Gerichtsort anfechten. Denn die Staatsanwaltschaft Palermo, seit der Ermordung der Untersuchungsrichter Falcone und Borsellino 1992 noch bissiger und angriffslustiger auf Zuarbeiter der Mafia als vorher schon, scheint dem Ex-Regierungschef geradezu ein Garant für seine Verurteilung – und daher will er lieber vor das in Italien bestehende Tribunale dei ministri kommen, eine Art Sondergerichtshof für Verfehlungen von Regierungsmitgliedern. Dieses Tribunal hat sich nicht nur in der Vergangenheit vorwiegend als Freispruchinstanz für dubiose Schmiergeldkassierer und Rechtsbeuger erwiesen – es besteht auch heute noch vorwiegend aus Personen, die Andreotti während seiner Regierungszeiten selbst ins Amt gehievt hat.

Unsicher ist daher zunächst, ob Andreotti zum ersten Verhandlungstag selbst erscheinen wird. Die Sicherheitskräfte haben jedenfalls jede Menge Verstärkung angefordert. Immerhin sind in den letzten drei Jahren zwei seiner wichtigsten Ansprechpartner umgebracht worden, der ehemalige Bürgermeister Palermos und Europaabgeordnete Salvo Lima und der Steuerpächter Ignazio Salvo – jene beiden, von denen die Aussteiger behaupten, sie hätten die Treffen mit den Mafiosi und auch die Gewalttaten zugunsten Andreottis angeordnet. Die Morde wurden seinerzeit als „Bestrafung“ für Andreotti interpretiert, weil dieser in seiner letzten Amtszeit nicht mehr imstande war, die mit den Mafiosi geschlossenen Pakte zu halten, und diese sich am Ende serienweise „lebenslänglich“ eingehandelt hatten.