"Kobe war wirklich ein Glücksfall"

■ Interview mit dem Atomphysiker Jinzaburo Takagi über die mangelnde Erdbebensicherheit von japanischen Atomkraftwerken

Jinzaburo Takagi, Jahrgang 1938, arbeitete zunächst als Atomphysiker beim Forschungsinstitut der japanischen AKW-Industrie (NAIG) und übernahm später eine Assistenz-Professur an der renommierten Tokioter Todai-Universität, die ihm einen längeren Studienaufenthalt am Max-Planck-Institut in Heidelberg ermöglichte. Seit 15 Jahren leitet er das „Citizen Nuclear Information Center“, einen international einflußreichen Think-tank der japanischen Anti-AKW-Bewegung.

taz: Hat die japanische Atomindustrie das Beben von Kobe unbeschadet überstanden?

Jinzaburo Takagi: Das Erdbeben von Kobe hatte sein Epizentrum direkt unter der Erde. Deshalb entstanden in manchen Bezirken besonders große Schäden, aber die von Erdbeben betroffene Fläche war insgesamt relativ klein. Die Betreiber der Atomkraftwerke in Fukui, nördlich von Kyoto, einschließlich des Schnellen Brüters Monju kamen also mit dem Schrecken davon. Ein Forschungsreaktor in Osaka, der möglicherweise Schaden hätte nehmen können, war zufällig seit längerer Zeit außer Betrieb.

Sind die Sicherheitsbestimmungen japanischer Atomkraftwerke so ausgelegt, daß sie einem Beben wie dem von Kobe in jedem Fall standhalten?

Nicht nur die Atomkraftwerke, auch andere Anlagen wie etwa das in Bau befindliche Atommüllager in Rokkasho in Nordjapan würden ein großes Erdbeben wie in Kobe nicht überstehen. Das erklärt sich daraus, daß man über die Erdschwingungen, die ein Beben unmittelbar unter der Erdoberfläche auslöst, sehr wenig weiß. Die berühmten japanischen Erdbebensicherheitsexperimente mit Atomkraftwerken gehen alle von einem Epizentrum aus, das weiter entfernt ist.

Sind denn die Standorte japanischer AKWs so gewählt, daß diese besondere Art von Beben nicht vorkommt?

Genau von dieser Annahme gehen die japanischen AKW-Betreiber aus, obwohl wir mit ihnen darüber seit Jahren diskutieren. Wir haben den Verdacht, daß insbesondere am Standort Hamaoka in geringer Entfernung von Tokio, in Kashiwazaki bei Niigata am japanischen Meer und im erwähnten Rokkasho die Erde aktiv ist. Hier wäre die Gefahr eines heftigen Bebens dann besonders groß.

Sind japanische Atomkraftwerke dann wenigstens für die häufiger auftretenden tieferen Beben gerüstet?

Die Regel in Japan lautet, daß ein Atomkraftwerk so gebaut werden muß, daß es dem größten bekannten Beben der jeweiligen Region standhält. Nach offiziellen Angaben soll es dann sogar einem noch stärkeren Beben widerstehen. Aber das Problem ist natürlich sofort ersichtlich: Es kann immer ein Erdbeben kommen, das stärker als alle vorigen ist. In Kobe war gerade das der Fall. Japanische Atomkraftwerke werden also keinesfalls jedem beliebigen Beben trotzen können.

Auf welchen Erfahrungen beruhen dann die heute gültigen Sicherheitsbestimmungen?

Die Sicherheitsstandards japanischer Atomkraftwerke sind immer wieder verändert worden. Nach jedem großen Beben gibt es neue Erkenntnisse, die sich dann innerhalb von ein, zwei Jahren in neuen Sicherheitsbestimmungen wiederfinden lassen. In Japan wurden vor allem nach dem großen Erdbeben von Hokkaido im Jahr 1968, bei dem viele Hochhäuser einstürzten, die Sicherheitsnormen wesentlich verschärft. In Kobe sind deshalb auch viele alte Gebäude aus der Zeit vor 1968 zerstört worden. Da in Japan schon in den 60er Jahren viele Atomkraftwerke gebaut wurden, sind diese heute besonders gefährlich.

Werden die alten Atomkraftwerke nicht nach den neuesten Erkenntnissen restauriert?

Die japanische Atompolitik hat das Prinzip, keinen sogenannten „back-fit“ („nachträgliche Verbesserungen“, d. Red.) vorzuschreiben. Heute gebaute Atomkraftwerke müssen den jeweils neuesten Standards entsprechen, aber die alten sind dazu nicht verpflichtet. Nach dem Unfall von Three Mile Island haben die japanischen Konstrukteure beispielsweise eine Menge dazugelernt und ihre Erkenntnisse beim Bau neuer Atomkraftwerke angewandt. Doch die alten blieben von den Veränderungen verschont und mußten nicht verändert werden.

Wie beurteilen Sie die tatsächlichen Gefahren, die bei einem Erdbeben von der Atomindustrie herrühren?

Auch wenn sich die Reaktoren erst einmal abschalten und der Schaden nicht gleich zur Kernschmelze führt, kann es einen Haufen Probleme geben. Wie der Fall von Kobe zeigt, können zerstörte Straßen den Zugang zum Atomkraftwerk blockieren. Notstromkapazitäten bei Atomkraftwerken gehen in aller Regel davon aus, daß der Strom nach einer Stunde wieder läuft. Ohne Strom funktioniert kein Kühlsystem mehr. Auch Wassermangel wie in Kobe kann sich als sehr problematisch erweisen. Hinzu kommt noch die Gefahr der vom Erdbeben ausgelösten Sturmwellen (tsunami), da Atomkraftwerke oft direkt am Meer stehen. Auch die Höhe der Sturmwellen wurde in den letzten Jahren immer wieder unterschätzt. Beides gleichzeitig – Erdbeben und Sturmwellen – könnten in der Nähe eines Atomkraftwerks schlimme Folgen haben.

Ebenso gefährlich sind Atomtransporte. Wenn ein Lastwagen mit Plutonium auf der Autobahn von einem Erdbeben zerrissen würde, könnte eine unglaubliche Katastrophe eintreten. Plutonium könnte unmittelbar freigesetzt werden. Insofern war das Unglück von Kobe wirklich ein Glücksfall, so absurd das klingt. Interview: Georg Blume