„Wir können es nicht wiedergutmachen, Herr Böing“

Auf ihrer Klassenreise nach Krakau besichtigen Berliner SchülerInnen die Drehorte von „Schindlers Liste“ und besuchen die Gedenkstätten von Auschwitz und Birkenau. Ihr Lehrer Axel Böing ist betroffen, die SchülerInnen auch – aber anders  ■ Aus Krakau Bascha Mika

„Eeeh, raus hier. Verschwinde!“ Eine Tür kracht zu, eine andere wird polternd aufgerissen. Jemand kreischt. Gedämpftes Gebrüll und Lachen dringt aus den Abteilen. Nachtexpress Berlin– Krakau. Die 10.2 der Moses-Mendelssohn-Oberschule ist auf Klassenfahrt. Eine Woche Polen für 15- bis 17jährige. Die Drehorte von „Schindlers Liste“ stehen auf dem Programm – Steven Spielbergs Filmepos über den Völkermord an den europäischen Juden. Und die Gedenkstätten von Auschwitz und Birkenau. „Ich war noch nie in einem KZ“, sagt Michel und hampelt ein bißchen herum, bevor er sich mit einer Büchse Cola in die Koje des Liegewagens zwängt. „Ich will wissen, wie es wirklich war.“

Krakau. Polnischer Winter von seiner sonnigen Seite. Knurrig schleppen sich die Jugendlichen vom Bahnhof ins Hotel. Andy und Pierre, Michel und Ivonne, Çan, Tanja und Patrycja, Mladen, Sascha, Christiane, Swen und Sasa, Matze und Steffi, Tuncai, Bianca, Justyna, Nils, Turgay und Felix. Zwei Mädchen stammen aus Polen, drei Jungen sind Türken, ein Schüler kommt aus Mazedonien, einer ist bosnischer Serbe.

Momentan sind alle etwas blaß. Die ganze Nacht durchgemacht. Klassenfahrt eben. Nur Axel Böing, ihr Lehrer, guckt frisch aus der Wäsche. Es ist früher Morgen, und seine SchülerInnen würden am liebsten sofort ins Bett kriechen.

Nichts da! Zimmer verteilen, Koffer abstellen, bißchen Wasser ins Gesicht spritzen: Stadtbesichtigung. „Mensch eeh“, werden die Kids abends erschöpft, aber zufrieden brummeln, „Krakau is' ja gar kein Dorf, sondern voll groß.“ – „Geile Discos und überall diese alten Häuser und Türme und so ...“

Die historische Kulisse von Krakau hatte schon Steven Spielberg begeistert. Als er die „wahre Geschichte“ des Oskar Schindler verfilmen wollte, reiste er nach Polen. Hier hatte Schindler, der Hochstapler und Halunke, der Unternehmer und Weiberheld zwischen 1939 und 1944 gelebt. Hier hatte er den Nazis das Leben von 1.100 jüdischen Menschen abgelistet. „Ich schaue die Stadt an wie eine Bühne“, gestand der Hollywoodregisseur, „eine Bühne, die wir nicht zu bauen brauchen.“

Kazimierz. Krakaus altes jüdisches Viertel. Wo Juden seit dem 15. Jahrhundert siedelten, fand Steven Spielberg seine Drehorte. Die Klasse 10.2 stürmt auf den Platz vor der Remuh-Synagoge. Michel, die Pudelmütze tief ins sommersprossige Gesicht gezogen, hampelt ein bißchen herum, wie es sich für ihn als Klassenclown gehört. Lauthals lobt er die billigen polnischen Hamburger. Sascha hat sich die Ohren mit den Stöpseln seines Walkmans verstopft, Tanja und Felix boxen sich die Ellbogen in die Rippen. Lehrer Böing mustert wortlos die einzelnen Grüppchen, die rauchen und feixen. Langsam wachsen seine Augenbrauen zu einem dunklen, borstigen Strich zusammen.

Die Jugendlichen hat es nicht zu dieser Reise gedrängt. Wohl aber ihren Lehrer. Es war seine Idee und seine Initiative. „Als ich mit Anfang zwanzig in Israel war“, erzählt Axel Böing, „bekam ich den großen Schock.“ Erst war es nur Schrecken, dann ein Schlüsselerlebnis. Mit Folgen. Der junge Böing überwarf sich mit seinem Vater, „weil der ein Nazi war“; er engagierte sich bei Aktion Sühnezeichen, arbeitete in verschiedenen KZ-Gedenkstätten, veröffentlichte Unterrichtsmaterial zu Auschwitz. Heute ist Böing fünfzig und stellt fest: „Die Auseinandersetzung mit dem Nazismus ist mein Lebensthema. Es ist ganz, ganz direkt dran bei mir.“

Das merkt man ihm an. Ist er bei seinem „Lebensthema“, bekommt sein Gesicht etwas Gequältes, die Senkrechtfalten vergraben sich tiefer zwischen Mund und Nase, in seiner Stimme schwingt ein eigenartiger Ton mit. Eine Mischung aus Scham und Erschütterung, ein leichtes Betroffenheitstremolo vibriert. An diesem Mann, der wie ein einsamer Titan an der Last der deutschen Geschichte trägt, kommt so leicht niemand vorbei. Auch seine Klasse nicht. Anfangs konnten sich nur zwei, drei SchülerInnen für die Krakau-Fahrt erwärmen; Lehrer Böing leistete „Überzeugungsarbeit“, bis endlich alle Jugendlichen akzeptierten.

Die Klasse hat Hunger. Das Mittagessen beschäftigt sie mehr als die Geschichte von Kazimierz. Walter Steyn scheint das zu spüren. Die Synagoge im Rücken, die Hände in den Taschen seiner braunen Windjacke vergraben, mustert der alte Jude die jungen Deutschen. „Habt ihr ,Schindlers Liste‘ gesehen?“ Die SchülerInnen nicken, nur Sascha nicht, der hat die Ohren verstopft. Langsam zieht Steyn die Hände aus den Taschen, streckt sie vor, sie zittern ein bißchen. Gespannt reißt Sascha seine Hörstöpsel heraus. „Erkennt ihr die wieder?“ Steyn lacht über sein ganzes breites, faltiges Gesicht. „Natürlich nicht! Waren es meine Hände, die am Anfang von ,Schindlers Liste‘ die Kerzen angezündet haben.“ Verdutzt starren die Kids auf die kräftigen Finger. „Habe ich auch das hebräische Gebet gesungen.“

Steyn hat die Jugendlichen schon durch die Remuh-Synagoge und über den jüdischen Friedhof geführt, doch erst jetzt spitzen sie die Ohren, um kein Wort von ihm zu verpassen. Auf einmal ist er interessant, dieser 81jährige Jude, der so sanft und abgeklärt aus seiner Brille guckt, als wären die Greuelgeschichten, die er erzählt, einem anderen passiert. „Stamme ich aus Kiew. War im Krieg bei der russischen Armee. Meine Frau, meine zwei Kinder, mein Vater, alle wurden von den Nazis ermordet. Die Deutschen haben mich gefangengenommen. Hab' gewußt, muß als Jude ändern meine Haut.“ Walter Steyn vernichtete seine Papiere, lernte ein paar Brocken arabisch und türkisch und verkaufte sich den Deutschen als nazifreundlicher Tscherkesse. Er überlebte. „Schlauer Kerl“, murmelt Turgay, der Klassensprecher der 10.2, bewundernd. Für Männermut hat der junge Türke was übrig.

Nach dem Krieg kam Steyn nach Krakau. Von den 68.000 Juden, die vor dem Krieg in der Stadt gelebt hatten, waren 2.700 übriggeblieben. Heute ist die jüdische Gemeinde auf 150 Menschen geschrumpft. Das jüngste Mitglied ist 65, das älteste über 100 Jahre alt. „Wir sind die letzten Mohikaner“, bemerkt Steyn fast heiter, „wir leben in unserer Schale, haben unsere Synagoge, das ist alles.“ Doch das hören die Berliner Jugendlichen schon nicht mehr. Sie lassen Steyn stehen, schwirren über den Platz, suchen nach weiteren Spuren von „Schindlers Liste“.

Gepäckstücke fliegen aus Fenstern, Menschen werden schreiend vor Angst aus Häusern getrieben, wie Vieh abgeknallt oder von geifernden Hunden gejagt – Filmfetzen. Die Räumung des jüdischen Ghettos in „Schindlers Liste“. In den alten Straßen von Kazimierz wurden diese Szenen gedreht. Neugierig inspizieren die Zehntklässler die Häuserwände und Fenster. Keine Blutspritzer, keine Einschußlöcher. Es riecht nach Mörtel und Farbe, die Gebäude sind frisch verputzt und geweißt. Gelangweilt wandern die Kaugummis von einer Backe in die andere.

„Eeh, seht mal!“ Die ersten haben einen Innenhof erreicht, den zweistöckige Gebäude umschließen. „War hier nicht ...“ – „Hier hat doch Ammon Göth ...“ – „... Und dieser jüdische Junge mit dem kleinen Mädchen ...“ – „Schindlers Liste“ live. Ein Platz, der noch genauso aussieht wie im Kino. Die Kids untersuchen jede Ecke. Was sie an Filmdialogen und -handlungen aus dem Gedächtnis kramen können, wird nachgespielt. Und geknipst. Jetzt haben sie ihren eigenen Film.

Die realen Schrecken des Walter Steyn haben sie aufmerksam, doch spürbar fern angehört. Jetzt, wo Spielbergs inszenierter Schrecken sie überfällt, graust es ihnen. „Wie sich die Menschen überall versteckt haben vor den Nazis, sogar in dieser Latrine, voll mit Scheiße ...“ Bianca, dunkelhaarig und sanft, der Liebling der Klasse, verzieht angeekelt den Mund. „... und dann haben sie Schüsse gehört und wußten, die kommen irgendwann ...“ Der Drehort wird zum Ort der Erinnerung.

Plaszow. Das Gelände des ehemaligen Zwangsarbeiterlagers am Rande von Krakau. Nichts deutet heute mehr auf ein KZ hin. Weite, glatte Grasbuckel, kein Haus. Nur zwei Denkmale halten die Geschichte wach. Zwischen diesen Hügeln stand auch das Zwangsarbeiterlager von „Schindlers Liste“. Doch von den Kulissen ist nichts mehr zu finden.

Die 10.2 turnt den Weg herauf. Sie hat das ehemalige jüdische Ghetto in Podgorze gesehen und das Ghetto-Museum in der Apotheke zum Adler. Michel kaspert, Sascha hat die Ohren mit den Stöpseln des Walkmans verstopft, Tanja und Felix boxen sich die Ellbogen in die Rippen.

Plötzlich stoppt Böing die Gruppe. Baut sich vor ihr auf. Seine Augenbrauen sind ein dunkler borstiger Strich. Turgay, der sich wie immer für die Klasse verantwortlich fühlt, scharrt unbehaglich mit den Füßen.

„An diesem Ort, wo so viele Menschen unsagbar gelitten haben, will ich, daß ihr euch anständig benehmt!“ Die Mahnung kommt nicht laut, aber scharf. „Es wird nicht herumgelaufen, nicht geraucht, nicht gebrüllt. Habt ihr das verstanden?“ Bianca, Arm in Arm mit einer Freundin, blinzelt zu Boden. Michel sieht seinem Lehrer ins Gesicht. „Wir können es nicht wiedergutmachen, Herr Böing“, sagt er leise. „Nein“, antwortet Böing fest, „aber zeigen, daß wir auf der Seite der Opfer sind.“ Der Lehrer wendet sich ab, verdrossen folgt ihm die Klasse den Hügel hinauf.

Sechs Wochen hat sich die 10.2 im Unterricht auf die Fahrt vorbereitet. Bereits bei Reiseantritt hängt den SchülerInnen das Thema Nazismus zum Halse heraus. „Herr Böing bespricht immer nur Krieg, Krieg, Krieg“, grollt Çan, „ich hasse Krieg.“ Er kickt gegen einen Stein. „Und die Nazizeit ist für mich als Türke weit weg.“ Trotzdem, ein bißchen Geschichte ist auch bei ihm hängengeblieben: „Über Hitler und die Reichspogromnacht und die Ermordung der Juden und so.“

Bianca, die direkt hinter ihm läuft, hält noch immer die Freundin fest. Bedrückt guckt sie und sauer: „Böing übertreibt. Und eine richtige Klassenfahrt ist das ja gar nicht, wir müssen immer früh aufstehen und uns mit einem Thema beschäftigen. Wie in der Schule.“

Wenige Wochen später werden Bianca und ihre Klasse die Konflikte der Krakau-Fahrt aus ihrem Gedächtnis gestrichen haben. Stolz wird die 10.2 einer Versammlung von Eltern und Lehrern in der Moses-Mendelssohn-Oberschule – einer Modelleinrichtung, in der kulturelle Vielfalt ausdrücklich Programm ist – ihre Reise schildern. Dias werden sie zeigen und Fotos. Viel wird von Eindrücken und Erfahrungen die Rede sein. Kein Wort vom Frust. Auch Axel Böing wird das Unternehmen loben.

Oben auf dem höchsten Hügel von Plaszow haben sich die Berliner Kids von Böings Strafpredigt erholt. Sie linsen hinauf zu dem zehn Meter hohen Steinkoloß. Mit verkrampften Gliedern steht die Menschenskulptur da; ein Riß spaltet sie in der Höhe des Herzens, das Genick ist gebrochen. Kurze Diskussion. Wohin mit dem mitgebrachten Blumenstrauß? Die Klasse entscheidet, ihn nicht hier beim großen Denkmal niederzulegen, sondern weiter unten, bei einer kleinen Gedenktafel, die von den Überlebenden des Lagers errichtet wurde.

Sie stolpern den Buckel hinunter, versammeln sich im Halbkreis um den Stein, einer der türkischen Jungen hält linkisch die Blumen. Stille. Minutenlang. Zum ersten Mal seit zwei Tagen. Vorsichtig läßt der junge Türke den Strauß auf den Boden gleiten. „Hab' ich es gut gemacht, Herr Böing?“ wird er seinen Lehrer später fragen.

Ruppig gibt sich die 10.2 am liebsten, mit motzigen Mündern und mißtrauischem Blick. Jugendlicher Trotz? Diese Mädchen und Jungen haben Probleme. Größere als die, die Erwachsene gern als Pubertätsschwierigkeiten abtun.

Versoffene Eltern, Prügel, Heimerziehung – für diese Kinder keine Unbekannten. Höchstens vier der zwanzig besitzen so etwas wie ein Zuhause, der Rest kommt aus maroden Familien. Wenn sie darüber sprechen, klingt es betont unbeteiligt, fast abgebrüht. „Mußte cool bleiben, eh.“ Ihre Hilflosigkeit, ihre Anhänglichkeit verstecken sie. Und ihre Aggression explodiert überraschend – unmotiviert, scheint's.

Auschwitz. Stammlager. Der Parkplatz. Riesengroß und voller Busse. Daneben eine Hot-Dog- Bude. Mit einem Pulk anderer Schulklassen schiebt sich die 10.2 zur Eingangspforte der Gedenkstätte. Geschwätz und Gelärm in zig verschiedenen Sprachen. „Voll gut, die Disco gestern,“ schwärmt Michel und rockt ein bißchen herum. Aus Saschas Ohrstöpseln dröhnt Musik, Tanja und Felix wechseln Fußtritte. Christiane, die Michels Bemerkung gehört hat, wird wütend: „Diese Machos kotzen mich an.“ Kaum hätten die Jungs am vergangenen Abend die Disco betreten, hätten sie sich auf die Polinnen gestürzt.

Zwischen den Jungs und Mädchen der 10.2 gärt es. Beziehungskisten, Eifersüchteleien, Machtkämpfe. Und jetzt Klassenfahrt. Eine ganze Woche Zeit, sich zu verkrachen und neu zu verhaken. Bis zum Hals stecken die Jugendlichen in ihren Gefühlskokons. Wie sollen da fremde Schicksale und vergangenes Leid durchdringen?

Axel Böing stoppt die Gruppe. Sascha klaubt die Walkman-Stöpsel aus den Ohren. „Was mir persönlich sehr am Herzen liegt, ist, daß ihr euch klarmacht, wo wir jetzt hingehen. Das hier ist der größte Friedhof der Welt. Und es gibt Deutsche, die sagen, das ist alles nicht wahr. Aber alles, was euch jetzt hier erzählt wird, ist wahr. Nehmt es mit!“

Ein Führer der Gedenkstätte setzt sich an die Spitze des kleinen Zuges. „Das hier ist eine schwere Todesthematik. Sagen Sie mir, wenn ich soll hören auf.“ Los geht's. Vorbei an Dokumenten von Mördern und Bildern von Opfern. Weiter! An Werkzeugen der Folter und der Vernichtung. Weiter! An Bergen von Brillen und Haaren der Ermordeten. „Diese Schweine“, flüstert Tanja entsetzt. Bianca hält ihre Freundinnen fest umschlungen, die türkischen Jungs gehen Arm in Arm. Tausende Schuhe, Hunderte Koffer. Weiter! Schreckenspädagogik im Schleudergang.

Der Führer schleust die Klasse durch das Konzentrationslager, so wie gleichzeitig unzählige andere SchülerInnen durchgejagt werden. Kein Innehalten, kein Moment des Gedenkens bleibt. Mit offenen Mündern, die Mienen erstarrt, hasten die Jugendlichen durch die Baracken. Die Kaugummis sind in den Backen geparkt.

Winzige Kleidchen und Hemdchen. Wäsche von ermordeten Kindern. Tanja flüstert ihrer Nachbarin ins Ohr. „Bei euch zu Hause seid ihr auch still auf einem Friedhof“, herrscht der Führer sie an. „Oh, Mann“, stöhnt Sascha, „warum meckert der uns so voll an?“

Schon ist's wieder vorbei mit der Aufmerksamkeit. Die Gruppe zerstreut sich, es wird gerempelt, gekichert. Einer der Jungen zeigt auf einen Haufen Prothesen. „Na, ist was Passendes für mich dabei? – „Sehr witzig!“ – „Halt die Schnauze!“ – „Schon gut, hab ja nichts gesagt.“ – „Mensch, ich hab Hunger.“ In der Kantine der Gedenkstätte gibt es heute Putenschnitzel mit Kartoffeln.

Birkenau. Das KL Auschwitz II. Im Torbogen bleibt Turgay stehen, redet auf seine Freunde ein. „Ich weiß gar nicht, was Böing von uns will. Warum macht er uns immer so fertig? Wir waren doch vorhin voll ruhig. Sonst sind wir nie so ... so aufmerksam und so ...“ Aufgebracht marschiert Turgay hinter dem Rest der Klasse her.

Weites, leeres Gelände. Eine Handvoll Baracken, Mauertrümmer. „Die Häftlinge mußten sich ausziehen, wurden in Gaskammern gebracht, zweitausend auf einmal, dann wieder rausgeholt, Haare abgeschnitten, Goldzähne rausgebrochen ...“

Leiernd spult der Führer die Stationen der Todesmaschinerie ab. Die Jugendlichen klettern auf den Resten der Krematorien herum. „In der Erde von Birkenau findet sich noch Asche.“ Kaum haben sie das gehört, knien die Kids auf dem Boden, suchen unter Büscheln und Wurzeln. Da, das Weiße! Ein Knochensplitter? Erschreckt über den Fund, aber irgendwie auch zufrieden, traben sie weiter. „Ich hab' mich immer gefragt, ob das alles so stimmt“, gesteht Turgay, „jetzt hab' ich es mit eigenen Augen gesehen.“

Doch schon am Abend dieses Tages wird dieser Eindruck verblaßt sein. „Irgendwie“, werden sie irritiert sagen, „irgendwie war es doch nicht so, daß man es sich richtig vorstellen könnte. So irgendwie nicht greifbar.“ Und unmerklich wird sich in ihren Erzählungen das, was sie in Auschwitz gesehen haben, mit den Bildern aus „Schindlers Liste“ mischen. Wie funktioniert eigentlich Erinnerung?

Noch einmal Blumen. Wer soll sie an einer der Gedenktafeln niederlegen? Alle wollen, drei dürfen. Axel Böing entscheidet. Murren. „Immer sind es dieselben.“

Rückzug. Die Mädchen und Jungen schlurfen zum Ausgang. Da läuft jemand zu den Gleisen, fängt an zu tanzen. Auf den Schienen, die zur Todesrampe führten. Er macht drei, vier Schritte, balanciert mit abgespreizten Armen, kippelt, stolpert, landet auf den Schwellen. „Mensch, Michel, komm da runter. Jetzt reicht's.“

Axel Böing hat den Blick für seine Klasse verloren. Die Augen auf den Boden geheftet, verläßt er das Vernichtungslager. Im Hotel wird er sich in sein Zimmer zurückziehen und am Abschiedsabend nicht, wie versprochen, mit ihnen in die Disco gehen. „Ich habe einen Elefanten erwartet, und ein Mäuschen ist dabei herausgekommen.“