Bleiben, um herauszukommen

Tadeusz Szymanscy, ein Überlebender von Auschwitz, lebt bis heute auf dem Lagergelände  ■ Von Denis Staunton

Wenn Tadeusz Szymanscy das Fenster seines Schlafzimmers öffnet, schaut er über zwei Reihen Stacheldraht auf den größten Friedhof der Welt, eine düstere Szenerie stiller Gebäude, Schornsteine und Wachtürme. Aus seinem Wohnzimmer sieht er auf eine Gaskammer und ein Krematorium; und wenn er spazierengeht, dann geht er auf einem Weg, auf dem vor ihm Tausende in den Tod gingen.

„Mir fehlen die Geräusche, wenn ich hier spazierengehe. Manchmal ging ich nachts durch das Lager, obwohl es verboten war. Ich hörte all die Geräusche. Jemand hustete, ein anderer schnarchte, einer träumte. Es klang wie ein Bienenstock, und es fehlt mir immer“, sagt er.

Szymanscy, ein ehemaliger KZ- Häftling, der viele seiner Freunde hier sterben sah, hat den größten Teil seines Lebens in einer alten SS-Baracke in Auschwitz verbracht. Er verläßt das Lager nur selten. Hier zu bleiben, sagt er, sei die beste Methode, sich seine Alpträume vom Leibe zu halten.

Seine hellblauen Augen sind so schwach, daß er nicht mehr lesen oder schreiben kann, aber sie leuchten noch immer auf, wenn er spricht. Inzwischen ist Szymanscy 75 Jahre alt; als er am 12. August 1941 zum ersten Mal nach Auschwitz kam, war er ein zwanzigjähriger Pfadfinderführer. Er war in seiner Heimatstadt Lancut in Ostpolen verhaftet worden, als die Nazis die polnische „Führungselite“ ausschalten wollten.

Obwohl er einer Untergrundorganisation angehörte, war Szymanscy zuversichtlich, daß er innerhalb von zwei oder drei Wochen freigelassen würde. Statt dessen blieb er vier Jahre in Konzentrationslagern und Gefängnissen — davon drei Jahre in Auschwitz — und entkam erst Wochen vor Kriegsende auf dem Transport nach Dachau.

„Ich sah das Tor mit der Inschrift ,Arbeit macht frei‘, aber dann sah ich die beiden Reihen Stacheldraht, und das jagte mir Angst ein. Ich merkte, daß es nicht leicht werden würde, aus so einem Käfig herauszukommen“, sagt er.

Einige Stunden nach seiner Ankunft gab ihm ein Häftling ein Blatt Papier, einen Umschlag und eine Briefmarke, damit er nach Hause schreiben konnte. Gefangene mußten für Briefmarken und Umschläge bezahlen, aber der Mann sagte Szymanscy, er könne sie umsonst haben, wenn er verspräche, irgendwann in der Zukunft für einen neu ankommenden Häftling dasselbe zu tun.

„Ich begriff das als einen Akt des Widerstands. Denn schließlich, was bedeutet Widerstand in Auschwitz? Die SS wollte uns alle umbringen, und alles, was wir dagegen unternahmen, erschien mir als Widerstand“, sagt er.

Nach einem Jahr Arbeit in den Gärten der SS wurde Szymanscy in die Aufnahme des Lagers versetzt, wo er die Aufgabe hatte, die Nummern der neuen Gefangenen zu notieren und für jeden einen detaillierten Fragebogen auszufüllen. Viele dieser Dokumente wurden von der SS unmittelbar vor der Befreiung des Lagers vernichtet, aber eine große Anzahl der Daten konnte rekonstruiert werden, weil Szymanscy und seine Freunde geheime Aufzeichnungen angefertigt hatten. Die SS war beeindruckt von Szymanscys Deutschkenntnissen — er verstand auch Tschechisch und Russisch — und behielt ihn bis zum Oktober 1944 in der Aufnahme. Die Lagerärzte machten an ihm medizinische Experimente. Einmal war er schon auf dem Weg in die Gaskammer, als ihn ein Arzt wieder aus der Schlange zog, weil ein Experiment, an dem er beteiligt war, noch nicht abgeschlossen war.

Trotz seiner Freude bei Kriegsende fiel es ihm schwer, sich zu Hause wieder einzuleben, und mit vielen alten Freunden fühlte er sich nicht wohl. „Alle Pfadfinder kamen zu mir und sagten: ,Du armer Kerl, was ist mit dir passiert?‘ Sobald ich weg konnte, ging ich, weil ich kein Mitleid wollte“, sagt er.

Im Januar 1946 kam Symanscy mit einer Gruppe anderer ehemaliger Häftlinge in die Nähe von Kattowitz und schlug vor, sie sollten sich ansehen, was von Auschwitz übriggeblieben war. Er fand sechzehn ehemalige Häftlinge, die entschlossen waren, das Lager als Gedenkstätte weiter zu führen. Einige Monate später schloß er sich ihnen an und ist geblieben; er arbeitete im Museum und im Dokumentationszentrum und half Opfern, ihre Verwandten wiederzufinden.

„Diese Besucher kamen in den ersten Jahren und fragten mich, ob ihre Mutter oder ihr Vater oder Bruder oder Schwester noch lebten. Dann fragten sie, wie es hier gewesen war, und ich erzählte ihnen alles. Ich bemerkte, daß meine schlimmen Träume seltener wurden und erkannte, daß ich mich von der Last befreite, wenn ich darüber sprechen konnte. Und das hat mir gutgetan“, sagt er.

Szymanscy ärgert sich, daß die Gedenkfeier des fünfzigsten Jahrestages der Befreiung von Auschwitz von Politikern und Staatsoberhäuptern beherrscht sein wird; er fürchtet, daß die ehemaligen Häftlinge an den Rand gedrängt werden.

Er sagt, er empfinde keinen Haß gegenüber den Deutschen, aber er ist enttäuscht, daß die Welt die Botschaft aus Auschwitz nicht verstanden hat. „Ich bin ein Pole, aber geboren bin ich in Bosnien in der Nähe von Goražde. Ich möchte zu den Leuten dort sagen: ,Was macht ihr da? Seid ihr verrückt?‘ Schauen Sie sich doch nur diesen Ort hier an. Durch einen Krieg erreicht man gar nichts. Man erreicht nur den Tod.“