„Barmherziger Gott, vergib ihnen nicht“

Vor den Ruinen von Birkenau fand gestern die jüdische Gedenkfeier statt  ■ Aus Auschwitz Klaus Bachmann

Die deutsche Delegation mit Vertretern deutscher Juden und Bundespräsident Roman Herzog steht am Eingang des Vernichtungslagers Birkenau, an jener Stelle, in der vor fünfzig Jahren die Eisenbahnzüge einfuhren. Noch heute liegen an dieser Stelle Geleise, rechts und links von ihnen stehen die spartanischen Holzbaracken, in denen damals die Häftlinge hausen mußten. Langsam setzt sich die Delegation in Bewegung auf das anderthalb Kilometer entfernte Krematorium zu, von dem nur noch bizarre Ruinen übrig sind. Vor ihrem Abzug hat die SS- Besatzung des Lagers die Anlagen für die Gaskammern beiseite geschafft und die Krematorien gesprengt, um die Spuren des Völkermords zu verwischen.

Bundespräsident Herzog hat auf eine Pressebegleitung aus Deutschland verzichtet, bewußt, wie man hört. Trotzdem wird er umstellt von in- und ausländischen Fernsehteams, Reportern und Rundfunkjournalisten. Am Rande der Menschentraube, die sich um die Delegation aus Deutschland gebildet hat, steht eine kleine Gruppe polnischer Juden aus Krakau. Kaum jemand, der sie beachtet.

Immer wieder strömen kleinere Gruppen ehemaliger Häftlinge und deren Angehöriger herein, die Blumenkränze tragen. Viele Juden haben sich in weiße Gebetstücher gehüllt. Abseits von den Reportern streiten sich einige Menschen mit dem New Yorker Rabbiner Avi Weiss, der am Vortag die katholische Kirche von Birkenau kurzzeitig besetzt hatte und von der Polizei weggetragen wurde. Die Kirche ist in dem Gebäude, in dem vor fünfzig Jahren die Wachmannschaften lebten, liegt aber heute außerhalb des Lagergeländes. Für Weiss ist diese katholische Kirche ein weiterer Versuch, Auschwitz zu katholisieren. Doch die Debatte auf dem Weg zum Krematorium verläuft gar nicht auf dieser Linie, ein polnischer Besucher stellt sich auf Weiss' Seite, er kritisiert nur, daß Weiss zu spät gegen die Usurpationsversuche durch die katholische Kirche protestiert habe.

Die Veranstaltung der jüdischen Organisationen ist offen für alle. Auch ein Pole hat sich ihr angeschlossen, der damals, so erzählt er, in der Umgegend des Lagers gearbeitet hat. „Wir haben gesehen, was hier vorging, aber wir mußten sehr vorsichtig sein.“ Der Mann muß Volksdeutscher gewesen sein, er war bei der Wehrmacht und spricht gut deutsch. „Das hier ist der größte Friedhof der Menschheit“, sagt er.

Die Delegationen sind vor den Trümmern der Krematorien angekommen. Vergeblich bemüht sich Szymon Szurmiej, Vorsitzender der polnischen jüdischen Vereinsföderation und Chef des jüdischen Theaters in Warschau, Ordnung in die Reihen der Pressevertreter zu bekommen. Ein junger Jude in weißem Tuch betet sichtlich erregt vor einem zerstörten Krematoriumskamin. Zu seinen Füßen knien aufgeregte Fotoreporter. Andere haben die Trümmer bestiegen. In seiner kurzen Ansprache spricht Szurmiej nur von anderthalb Millionen Toten, deren es zu gedenken gelte, ohne Nennung der Nationalität. „Wir werden auch keine Namen nennen“, sagt er, „hier sind alle gleich.“

Elie Wiesel, Nobelpreisträger und Ex-Häftling, hält seine Ansprache in jiddisch und englisch: „Barmherziger Gott, sei nicht barmherzig zu den Mördern, die unsere jüdischen Kinder umgebracht haben. Gott, der Du vergibst, vergib ihnen nicht. Es gibt keine Kollektivschuld, aber es gibt die Schuld der Schuldigen.“ Im Hintergrund hat sich Zygmunt Sobolewski, katholischer Auschwitzhäftling und Vorsitzender der Canadian Awareness Society, niedergelassen. Er trägt Häftlingskleidung und ein Schild: „Wir, die Christen, sind auch schuld am Holocaust.“ Sobolewski kämpft seit Jahren für mehr Berücksichtigung jüdischer Empfindlichkeiten in Auschwitz, gegen die katholischen Kirchen um die Lager in Polen.

Während er mit polnischen Reportern diskutiert, trägt der Wind ein jüdisches Klagelied über die verstreuten Ruinen, die Lagerbaracken und die Aufbauten für die morgigen staatlichen Feierlichkeiten.