Aus den Pappkisten des Patriarchats

„Man lebe überall und heirate 4.700 Hände“ – ein „Requiem feminae“ im Theater am Halleschen Ufer  ■ Von Christine Hohmeyer

Schon im Foyer ist gute Stimmung. „Ganz anderes Publikum heute“, sagt die Frau hinter mir, „sonst sind hier immer so viele Männer.“ Heute dagegen sind hauptsächlich Frauen im Theater am Halleschen Ufer, und das ist kein Wunder. Denn unter dem kryptischen Titel „Man lebe überall und heirate 4.700 Hände“ gibt es Variationen über das ewig Weibliche zu sehen, Szenen aus den Katakomben des Patriarchats. Ein „Requiem feminae“ nennt Mechthild Erpenbeck ihr Musik- Sprech-Tanz-Theaterstück auch, doch so heilig, wie das klingt, ist das Ganze gar nicht.

Die Bühne gleicht einem großen Schuhkarton mit Türen und Löchern. Sieben seltsame Kisten fahren darin herum, versuchen, an der Wand einzuparken und kommen sich dabei natürlich in die Quere. Klar: Kisten haben keine Augen. Einige sind schnell, andere langsam, und alle sind sie wahrscheinlich bewohnt. Doch endlich hat auch die trödligste Truhe ihren Platz gefunden, und die Bewohnerinnen zeigen sich. Irgendwie sind das alles bekannte Typen. Sieben Klischees, vom bösen Mädchen bis zur Malerin, steigen da aus den Mottenkisten. Ein paar uralte Mythen schleppen sie auch noch mit. Golden Girl, eine arme Irre, leiert die Lady Macbeth herunter und putzt imaginäre Blutflecken mit einem Staubtuch weg. Das ewige Fräulein im grünen Lodenkostüm sagt ein ums andere Mal: „Heirate mich, ich lebe nicht lange“, und zieht sich beim dritten Mal den Rock hoch, wie um zu zeigen, worauf es ankommt. Die Chefsekretärin sagt Küchenrezepte auf, eine Kellnerin tanzt Step. Es knistert im Karton. Die fixen Ideen proben den Aufstand. Sind wir in einem Irrenhaus gelandet? Oder gar in der Hölle? Wir wissen es nicht. Jedenfalls ist der Schuhkarton ein Ort weiblicher Obsessionen, ein Schauplatz für die Mißgestalten des Patriarchates. Das „Requiem feminae“ ist eine witzige Abrechnung mit den Ideologien der Weiblichkeit, mit weltlichen und religiösen Frauenbildern und mit der – männlichen – Literatur von Shakespeare bis Schiller. Ein Pandämonium lächerlicher Figuren und gescheiterter Gestalten, eine Anhäufung grotesker Einfälle und Zitate über das Leben der Frauen zwischen Fleischrezepten und dem Hygienesachbuch. „Mikroorganismen ... sie sitzen überall“, säuselt eine ätherische Stimme, und schon flitzt Lady Macbeth mit ihrem Staubtuch los. Doch seltsam: Diese Figuren sind, bei allem Spott, verdammt liebenswert. Einen an der Klatsche haben sie, aber trotzdem sind sie würdevoll, rührend, lebendig. Wenn sie alle zusammen in schönster Frauensolidarität singen: „You've got a friend“, könnte man gerade anfangen zu heulen. Doch keine Sorge: bevor es so richtig rührselig wird, hat Golden Girl einen Sprung in der Platte und singt sechzehnmal die gleiche Nummer. Erst nach einem Arschtritt der Chefsekretärin geht es weiter, und da ist die schöne Stimmung natürlich wieder hinüber. Am einigsten sind sich die Damen allerdings, als auf einmal ein Macho im weißen Anzug auftaucht. Da geht es her wie bei den lustigen Weibern von Windsor: der Kerl kriegt Klassenkeile und muß schleunigst wieder verschwinden.

Mechthild Erpenbecks Inszenierung hat ein grandioses Timing. Die einzelnen Szenen werden nach dem Collageprinzip der harten Schnitte aneinandergereiht, so daß eines nicht zum anderen paßt. Trotzdem ist das Konglomerat aus Tanz und Gesang, Monologen und Ensemblegewimmel unglaublich stimmig und kurzweilig, witzig und tiefsinnig, hektisch und ruhig zugleich. Schön singen können die Damen auch, einen Jodler im Dirndl, ein vielstimmiges Spiritual, Madrigale von Orlando di Lasso und Purcell, einen Beatles-Song. „You say goodby, and I say hello“. Hello, hello ...

Doch schon nach der Hälfte des Stückes scheint auf einmal bereits alles zu Ende. Die Türen des Schuhkartons öffnen sich. Von außen glänzt ein nie gesehenes Licht. Der Ausgang des Weibes aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit scheint gekommen. Aber ach: die Frauen spazieren durch die Türen hinaus und zur anderen Seite wieder hinein. Dann sind sie alle, alle wieder da, und der ganze Zirkus geht von vorne los.

Theater am Halleschen Ufer, bis zum 29.1. und vom 1. bis 5.2., jeweils 20 Uhr.