Gibt es noch frejleche Kretschmes?

Jüdisches Theater, wie gerade in Berlin entstanden, erfreut nur nichtjüdische Zuschauer  ■ Von Tsafrir Cohen

Muß jüdisches Theater jiddischsprachig sein? Global betrachtet freilich nicht, denn Juden hatten und haben unterschiedliche Muttersprachen: Abgesehen von Jiddisch, der Sprache vieler Osteuropäer, müssen Ladino und Hebräisch als „jüdische“ Sprachen definiert werden.

In Deutschland verachtete die deutschsprachige jüdische Gesellschaft das Jiddische als Symbol eines unkultiviert zurückgebliebenen Erbes, das man lieber vergessen wollte: wie eine beschämende, in der Jugend begangene Missetat, die eine/n Assimilationsberauschte/n in der „kultivierten“, „geistreichen“ deutschen Gesellschaft in Verlegenheit bringt.

Die Verachtung dieser Sprache und der Kultur, die sie symbolisiert, war nicht nur in Deutschland tief verwurzelt: Im ehemaligen Palästina gab es den berühmt-berüchtigten Sprachenkrieg, an dessen Ende Israelis das Jiddische nur noch als lächerliche Sprache wahrnahmen, die von verweichlichten alten Männern und verzickten Tanten gesprochen wurde. Das jiddische Erbe war den zionistischen Revolutionären zutiefst verhaßt, die Sprache hatte in Israel keine Chance. Die Heimat des Jiddischen wurde vom nationalsozialistischen Deutschland in Asche verwandelt, die Reste wurden durch Stalins Anstrengungen so gut wie getilgt.

Heute ist Jiddisch, sieht man mal von der Orthodoxie ab, eine tote Sprache. Das Nationale Jiddische Theater in Bukarest siecht dahin, und in das Jiddische Theater von Tel Aviv gehen nur noch silberhaarige Menschen, die sich junge Israelis anschauen, deren verzerrte Gesichter von dem vergeblichen, ja unwürdigen Kampf zeugen, einigermaßen verständliches Jiddisch zu sprechen.

Das Jüdische Theater Grimassa, Berlin, das eben jetzt gegründet wurde (in der Nachfolge der jüdisch-russischen Theatergruppe, die ab 1991 in Berlin arbeitete), stellt in diesem Winter mit einem musikalischen Spektakel nach Motiven von Scholem Alejchem (1859-1916) seine erste Arbeit vor. Gespielt wird auf jiddisch. Kaum einer der Schauspieler, allesamt Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, spricht Jiddisch als Muttersprache, wenn auch der eine oder andere sie als Kind zu entziffern lernte, da sie den Eltern als Geheimsprache diente. Sie alle haben Sprache und korrekte Akzentuierung (des litauischen Dialekts, der von manchen als „Hochjiddisch“ betrachtet wird) erst lernen müssen. Dennoch ist es nur folgerichtig, daß Juden in der Bundesrepublik, mehrheitlich keine Jeckes (deutsche Juden) mehr – ihre Herkunft ist zum großen Teil Osteuropa – den sprachlichen Baustein des vergessenen Erbes pflegen.

„Die frejleche Kretschme“ heißt das Stück und erzählt von Liebe auf den ersten Blick, die doch durch glückliche Umstände den finanziellen Erfordernissen einer Vermählung ideal entspricht: Malke, die sich im Wirtshaus ihrer Eltern, in dem sie bedient, in einen Gast verliebt, stellt zum Erstaunen aller Beteiligten fest, daß ebendieser Mann, über dessen Herkunft sie durchaus nichts wußte, sowohl ein Doktor (die Bedingung ihrer Mutter, einen Ehemann für ihre Tochter zu akzeptieren) als auch ein „Sojcher“, also ein Kaufmann (und dies entspricht dem Wunsch des Vaters) ist.

Das Aufeinanderprallen von Liebe und Ökonomie, meist in der Form eines von der Familie erzwungenen „Schiduch“ (einer Verkuppelung), den meist eine Berufskupplerin zuwege bringt, findet nicht statt: Dadurch wird der Generationskonflikt gemieden, und das Glück scheint gottgegeben zu sein.

Die Konflikte sind nur dem Zuschauer bekannt, die Figuren auf der Bühne agieren, ohne die leiseste Ahnung von den möglichen Gefahren zu haben, die um die Ecke lauern. Eine Art Bauerntheater also, das wenig mit den Problemen eines zweiseeligen Faust oder eines zweifelnd-verzweifelnden Hamlet zu tun hat.

Alexander Levin, Regisseur, Schauspieler und Gründer der Kiewer Theatergruppe „Grotesk“, seit vier Jahren in Berlin, möchte ein professionelles Theater, das nicht nur jiddische Stücke auf jiddisch spielt. Das Jüdische Theater soll auch russische, israelische und deutsche Stücke auf russisch und deutsch spielen können. Er bezweifelt, ob man mit jiddischem Drama allein in einem zeitgenössischen Theater auskommt. Allerdings: Im Gegensatz zu jiddischer Lyrik und Prosa, die stark von der Weltliteratur beeinflußt wurden, den Konflikt zwischen der tradierten Lebensweise und den Phänomenen der modernen Welt (wie Proletarisierung und massive Auswanderung) behandelten und oft anarchistische und sozialistische Tendenzen zur Sprache brachten, besteht das Theater-Repertoire vorwiegend aus Komödien. Diese erzielten, wie englisches Theater zu Zeiten der Restauration, einen zeitbezogenen komischen Effekt – der allerdings auf spätere Generationen kaum wirkt: Neue Stücke wurden nicht geschrieben (die letzten weltlichen jiddischen Tageszeitungen, die früher in der Sowjetunion, in Paris, New York, Südamerika und Tel Aviv erschienen, sind längst nur noch Wochenzeitungen, ihre Leser mehrheitlich Rentner).

„Die frejleche Kretschme“ behandelt keine Zusammenhänge, die für eine/n Zeitgenoss/in von Belang wären. Es erzeugt bei den wenigen einschlägigen Zuschauern gewisse sentimentale Heimwehschauer und kann nur eine nichtjüdische Zuschauerschaft erfreuen, die das Anschauen jiddischer Stücke als Teil ihres Sühneprogramms betrachtet, wobei, wie ein jüdischer Publizist in Berlin zu sagen pflegt – jiddische Menschen vor allem dann geliebt werden, wenn sie fröhlich sind, das beruhigt so sehr ...

Osteuropäische Tradition, wie sie sich beim „Theater am Ufer“ oder beim israelischen „Gescher Theater“ manifestiert, ist auch das Erbe von Grimassa. Jüdisches Theater an sich gibt es nicht. Ein jüdisches Theater könnte sich aber mit jüdischen Inhalten beschäftigen auf eine Weise, wie kein anderes Theater es tut. Bette Midler und George Tabori sagen noch heute „Gewalt!“ und essen gern Kischke und scheinen ein konkretes jüdisches Selbstbewußtsein zu haben, das sich auch künstlerisch niederschlägt.

„Das Jüdische Theater“ ist das einzige Theater in Berlin, dessen Probensprache Russisch ist, die Atmosphäre nennen einige Schauspieler „angenehm sowjetisch“. Gerade aus diesem Potential sollte man schöpfen, denn es gibt ihn, den jüdischen Homo sowjeticus – und Theater lebt von der Erfahrung seiner „Macher“.

P.S.: „Die frejleche Kretschme“ heißt die fröhliche Wirtin, aber das versteht man doch, oder?

„Die frejleche Kretschme“ ist am Sonntag abend, 19 Uhr, in der Jüdischen Gemeinde, Fasanenstr. 79 zu sehen.