Huber sieht die Psychotherapie bedroht

■ Ärztekammerpräsident warnt: Jeder vierte benötigt Therapie – doch statt einer Ausweitung droht die Kürzung des Therapieangebots wegen Honorarstreits

Ein Viertel aller berufstätigen Großstadtmenschen hat psychogene Krankheiten und bedürfte eigentlich der psychotherapeutischen Behandlung, vier Prozent brauchten sogar eine stationäre Therapie. So lautet jedenfalls das Ergebnis einer Feldstudie vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim, die gestern von der Ärztekammer und verschiedene Psychotherapeutenverbände vorstellte wurde.

Gemessen daran sei Berlin mit rund 1.100 Psychotherapeuten, Psychologen, Jugendtherapeuten und psychotherapeutisch arbeitenden Ärzten eher unterversorgt, kommentierten die Verbandsvertreter Eberhard Jung und Anne Springer. Auch Ärztekammerpräsident Ellis Huber glaubt, daß eine Verdoppelung der bestehenden Angebote nötig wäre. Solche „Beziehungsmedizin“ sei nämlich oft viel wirkungsvoller als die Apparatemedizin.

Aber sie wird schlechter honoriert. Seit die Kassenärztliche Vereinigung eine neue Honorarstruktur eingeführt hat, die die zeitaufwendige Zuwendung zum Patienten benachteiligt, sind die Stundenhonorare für AOK- und andere „Primärkassen“-Patienten von hundert auf siebzig Mark gesunken. Der Ärztekammer und den Therapeutenverbänden geht es jedoch nicht einfach darum, das Hungertuch zu hissen und nach mehr Geld zu japsen. Sie hoffen vielmehr auf Verhandlungen mit der Kassenärztlichen Vereinigung und den Krankenkassen. Erwünschtes Ergebnis: eine Umstrukturierung der Zuwendungen zugunsten der Psychotherapie, zumal diese in nicht wenigen Fällen auch Geld für aufwendige Untersuchungen oder Kuren sparen kann.

Ohne diese Umstrukturierung aber würden just die Bedürftigsten zukünftig am schlechtesten versorgt, fürchten die Psychotherapeutenverbände. In der Unterschicht, das bestätigte die Mannheimer Studie, häufen sich die psychogenen Erkrankungen. Solche Patienten sind überproportional oft in der AOK und in den anderen Primärkassen versichert und bringen ihren Therapeuten wegen der ungerechten Honorarregelung weniger Geld ein.

Manche psychotherapeutische Praxis in Problemgebieten wie Kreuzberg oder Wedding hat gegenüber 1992 ein Drittel weniger Einnahmen zu verzeichnen, längerfristig droht gerade den engagierten Praxen, in denen nicht auf die Krankenversicherung der Patienten geschielt wird, das Aus. Andere Praxen werden erst gar nicht eröffnet. Folge: Die bisherigen Wartezeiten für Patienten werden wohl noch länger werden, und noch mehr Behandlungsbedürftige bleiben unbehandelt. Ellis Huber brachte es am Ende noch mal auf den Punkt: „Die Psychotherapie ist in Gefahr, nicht die Psychotherapeuten.“ Ute Scheub