Fitneßstudio der Bildung

Ein aufbauender Bummel durch die Hallen der schönen Künste in Hamburg  ■ Von Jan Feddersen

Kurz nach Neujahr. Ein Sonntag. Feiner Sprühregen benieselt Hamburg. Einheimische wie wir nutzen solche Stunden für Tagträume, die immer gleich verlaufen: depressiv. Sinnfragen nach verpfuschtem Leben, nach der verlorenen Jugend und den Beschwernissen des Alters. „Reisen, das wär's“, meint Herr Heinz nach langem Schweigen, „aber nicht in die Karibik, nach Tunesien oder in die Provence.“

Was weiß die Heinz schon vom Reisen, vom Wegfahren, Sehnen, Ankommen, Abschiednehmen – und überhaupt? Nichts. Keine Ahnung von Istanbul und seinen Reizen, von liturgischen Märschen durch Karelien oder Theaterbesuchen in New York. Die Expertin fürs Reisen bin ich. Ich. Basta.

Herr Heinz sitzt plötzlich kerzengerade und beginnt wie unter Adrenalinschock zu dozieren: „Was uns jetzt fehlt, ist eine Reise in den Fundus der Bildung, zur Kultur und zu den schönen, sehr schönen Künsten.“ Wie zufällig legt er ein Faltblatt auf den Kieferntisch: „Munch in Deutschland – Hamburger Kunsthalle“ steht darauf geschrieben, auf dem Deckblatt noch das Repro jenes durch Dame Edna und durch norwegische Abtreibungsgegner so berühmt gewordenen Motivs „Der Schrei“. Ein Bild für Verzagte, Malerei, die Betroffenheit signalisiert oder, wie es im Prospekt bündig heißt, „elementares Entsetzen“. Tatsächlich: Ist es es nicht genau das, was uns auf den Nägeln brennt? Dieser Schrei gegen alles, gegen Unrecht, Pein, unschuldige Seelen, ein Urschrei mithin, ein Notruf wider die Hölle auf Erden, gegen Klimakatastrophe und schlechte Manieren in der U-Bahn.

Wie schön, daß ein Hersteller von lindernden Magensäften als Sponsor der Ausstellung auftritt. Unsere Stimmung scheint ideal, um das Werk des großen norwegischen Melancholikers transzendental zu durchdringen: Munch, hilf! Munch, wir kommen!

Die Kunsthalle in Hamburg, ein architektonischer Versuch, der Stadt etwas klassizistische Tönung zu verpassen, zählt zu den ersten Adressen des Bildertourismus. 1974 war's, als dort die romantischen Gemälde Caspar David Friedrichs für Furore sorgten: Eine halbe Million Besucher schoben sich damals durch die Gänge des Hauses am Hauptbahnhof – der moderne Museumstourismus war geboren, die Bildungstempel endgültig den besseren Ständen streitig gemacht worden durch kulturbeflissene Proleten.

Inzwischen kann sich kein Museumsleiter mehr leisten, beispielsweise, für viel Geld, sagen wir, „Kyrillische Zeichnungen des 16. Jahrhunderts im Spiegel der belgischen Kunst“ zu zeigen oder andere orchideenhafte Interessen zu befriedigen: Tübingen kommt daher mit Cézanne, Stuttgart mit Beckmann und Kassel sowieso mit der documenta – ohne mögliche Besucherrekorde traut sich kein Direktor irgendeiner deutschen Galerie mehr, an die Feuilletons der Republik heranzutreten. Selbst eine so wladiwostokhaft-abseitige Stadt wie Emden gilt als feste Adresse von Kulturausflüglern: Dort hat Henri Nannen (finanziell gesegnet, weil Erfinder des Stern) eine Kunsthalle aus dem ostfriesischen Torf gestampft.

Und die Leute sind wie verrückt nach Stoff aus den Ateliers früherer und neuerer Meister: Sie reisen dorthin, übernachten bisweilen, essen und genießen die Teilhabe an den Dingen, sehr zur Freude der Fremdenverkehrsämter.

Von solchen Grübeleien umweht, steuern wir zielsicher durch die Gänge, kaufen Tickets und eilen auf schnellstem Wege unter die Hauptkuppel des Hauses, wo das „Lebensfries“ Munchs zu finden ist. Das ist dramaturgisch geschickt gemacht von den Museumspädagogen: So steht man sehr schnell vor dem Bildnis, das Munch auch für Sozialpädagogen akzeptabel macht – „Der Schrei“.

Wir schauen auf das Bild. „Es stinkt“, flüstere ich Herrn Heinz zu. Flüstern – die übliche Tonlage in Museen. Alles ist heilig. Niemand spricht in normaler Tonstärke. Vor den Bildern stehen die Leute und schauen. Viele stehen stumm: Beim Essen und im Angesichte großer Kunst spricht man nicht. „Wir müssen uns was denken“, sagt Herr Heinz, „es fühlen. Es geht um Kunst.“ Ich protestiere und führe an, daß ein Museum schließlich auch eine Art amouröses Freigehege sei. Eine Freundin erzählte mal, daß man Männer am besten mittwochs in Museen kennenlernen könne, weil erstens Männer sowieso nichts anderes im Kopf haben und zweitens ein Gesprächsthema „im Eintrittspreis sozusagen enthalten“ sei.

Herr Heinz tut so, als habe er dieses nicht gehört, vergißt aber kurz darauf seine skeptische Haltung und erzählt von einem Kinofilm, der „Dressed to kill“ heißt und wo eine Frau nach eben solch einem Museumsabenteuer ziemlich grausam über den Jordan geschickt wird.

Eine Museumswärterin klärt uns über die Stimmungslage der Besucherschaft auf: „Guggenheim lief besser, dafür war Picasso umstrittener.“ Munch – ein Maler des Common sense? Das weiß die Frau, die aufpaßt, daß „hier niemand Bilder rausschneidet wie letztens im Louvre innerhalb von vier Minuten“, auch nicht. Doch eines sei sicher: „Über Geschmack läßt sich nicht streiten.“

Ich fühle nichts. Ratlosigkeit. Kaffeedurst. Gibt's hier Aschenbecher? „Nein“, sagt Herr Heinz, „doch nicht hier.“ Eine Frau steht vor dem wahrscheinlich zu Tode betrachteten Gemälde und urteilt mit Sinn für Farbechtheit: „Im Katalog sieht ,Der Schrei‘ roter aus.“ Im Grunde kann niemand richtig gucken, man drängelt vor den „Liebespaaren im Park“, die mich rühren, weil sie wie dicke Pinguine aussehen, was ich der Heinz mitteile, zur Strafe aber zu hören bekomme, daß „man mit Munch keine Späße treibt“.

Wir schreiten an Munchs Werken vorüber, die so eindrucksvolle Titel tragen wie „Am Totenbett, Fieber“, „Angst“, „Melancholie“, „Der ertrunkene Junge“ oder auch „Weihnachten im Bordell“, was auch wieder wegen der malerischen Tristesse Fragen zurückläßt, schließlich heißen diese Einrichtungen doch auch Freudenhäuser.

Jedenfalls muß Munch ein heiterer Mensch gewesen sein, vermute ich mal Herrn Heinz gegenüber, Protest erwartend. Wer alle seine Bilder so dunkel, so „moribund“ (Herr Heinz) pinsele, werde sich nicht auch noch im Privatleben mit Pessimismus behelligen.

Wir kommen im Gestrüpp der Deutungen auf keinen grünen Zweig. 20 Minuten freischärlern wir getrennter Wege. Dann, wieder vereint, erhebe ich leise meine Stimme, um dem Gefährten fundiertes Viertelwissen vorzuführen, gesammelt und gereift nach einer Stippvisite bei einer Führung, die zufällig des Weges kam. War interessant, beispielsweise, daß die Bilder der Warnemünder Periode hier so transparent, so lieblich-fahl wirken, weil der Meister sie ohne Grundierung auf die Leinwand brachte.

Doch das heitere Wissensbrockenzuwerfen wird jäh unterbrochen, als eine ältere Dame (Typ Arztwitwe) im Pelzmantel sich eine Museumswärterin vorknöpft und fragt, „wo ich mich schriftlich beschweren kann“. Die Arme hat mit dem Entziffern der Schilder Schwierigkeiten, weil sie auf der Erde angebracht sind. Wir verstehen die Empörung: Auch Woody Allen, der kurz zum 3. Advent vorbeischaute, soll sich über diese Unachtsamkeit der Ausstellungsmacher bitter beklagt haben, wie unter Kollegen des Kunsthallendirektors Uwe Schneede nicht ganz ohne Häme gemunkelt wird.

Das Interesse des sehbehinderten amerikanischen Melancholikers für Munch scheint uns „evident“ (Herr Heinz). Wie schrieb er doch in „Nebenwirkungen“: „Heute sah ich einen rotgelben Sonnenuntergang und dachte, wie unbedeutend bin ich doch. Natürlich dachte ich das gestern auch, und da hat's geregnet. Mich überkam Ekel vor mir selbst, und ich dachte wieder an Selbstmord – diesmal wollte ich direkt neben einem Versicherungsvertreter tief einatmen.“

Und wie anders hatte Munch auf das gleiche Naturphänomen zu reagieren gewußt: „Die Sonne ging gerade unter, die Wolken färbten sich rot, wie Blut. Ich empfand das alles wie einen Schrei, der durch die Natur ging.“ Wir fühlen uns allmählich sicherer auf diesem doch sehr glatten Kulturparkett: Munch und Allen, Sonnenuntergang in Cinemascope, Verzweiflung und Überdruß – auf diesen Gedanken von Seelenverwandtschaft sollen die anderen erst mal kommen...

Während die Meute durch die Räume schleicht, vor dem Gang ins „Café Liebermann“ Kataloge, Poster und „Der Schrei“-T-Shirts erwirbt, manche sogar Original- Ölfarben Munchs („Nietzsche-yellow“, „Melancholy-green“ oder „Berlin-brown“) für 480 Deutschmark erstehen, sichten wir das Buch, in dem die Besucher ihre Urteile abgeben können.

„Wir waren da“, schrieben Ursel und Jonas. Dr. S. Schorch läßt wissen: „Ich bin ergriffen.“ Heike, 13 Jahre, schwört: „Die Bilder waren schön“, während ein Kunstfreund die Arbeit der Ausstellungsmacher mit „sehr gut gehängt“ würdigt. Martina Odenbach aus Kiel beschwert sich hingegen über die Dienstleister im Hintergrund einer solchen Schau: „Man müßte mal öfter den Boden wischen, damit die Feierlichkeit bleibt.“

Endlich, menschliche Lichtblicke. Bekenntnisse, Schwüre, Ekstasen. Ein Besucher aus Konstanz war so erschüttert, daß er ein Gedicht zu Papier brachte: „Ein Traum, / Ein Alptraum / erscheint / doch / ich kann / mich nicht / abwenden.“ Und wir beginnen fast zu weinen.

Mit Katalogen und Postkarten bepackt, lassen wir uns die Garderobe zurückgeben. Wir verlassen das Haus gutgelaunt. Draußen nieselt es. Was macht das schon? Eine Reise so zwischen Tür und Angel geht zu Ende. Kultur ist echt nicht so übel. Fast so gut wie Minigolf.

Edvard-Munch-Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle noch bis zum 12. Februar Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr, Donnerstag bis 21 Uhr.