Apprendre l'Europe à Berlin

In einem Modellprojekt lernen deutsche und ausländische Kinder von Beginn an zweisprachig / Gemeinsames Lernen mit „ganz anderem Fluidum“  ■ Von Anja Dilk

Das kleine schwarze Mädchen nestelt an seiner rosa Haarschleife, ihr weißer Schulkamerad kämpft mit den Förmchen im Sandkasten. Spielende Kinder auf einer Wiese: Die bunte Wandmalerei im Innenhof haben die Kinder der märkischen Grundschule in Berlin-Reinickendorf selbst gemalt. Hier werden sie gemeinsam unterrichtet: Kinder aus Frankreich, Deutschland, manchmal auch aus Ländern des französischsprachigen Afrikas.

Musikunterricht in der 1b. Ein Stimmengewirr von Deutsch und Französisch dringt auf den Gang. In dem bunt geschmückten Klassenraum haben die 16 Erstklässler ihre Stühle zu einem Kreis gerückt. Mardi, 10 janvier 1995 steht an der Tafel. „Jacques a dit, tourne la têêêêête,“ singt ein blonder Junge im Ringelshirt. Alle Köpfe fliegen herum. „Jetzt will ich mal“, quengelt ein Mädchen mit Pferdeschwanz. „Non, moi, moi“, fährt ein anderes dazwischen. Nebenan in der 1a steht Mathe auf dem Plan. Jetzt sprechen alle deutsch. Wer Franzose ist und wer Deutscher, kann man kaum auseinanderhalten. „Der gemeinsame Unterricht bringt ein ganz anderes Fluidum an die Schule“, meint Gisela Magiera, Schulleiterin der märkischen Grundschule, „wenn die Deutschen sehen, daß ihre französischen Mitschüler Crêpes machen, ist das einfach toll.“

Die Europaschulen sind für alle Kinder offen

Seit drei Jahren beteiligt sich die märkische Grundschule an einem bundesweit einmaligen Berliner Modellprojekt zur zweisprachigen Erziehung: die Europaschulen. Die Europaschulen des Pilotprojekts sind nicht zu verwechseln mit den gleichnamigen Schulen der Europäischen Union (EU), wie es sie beispielsweise in München und Karlsruhe gibt. Dort können Kinder, in erster Linie von Beamten der EU, eine Art Europa-Abitur machen, das auf einer Mischung der Curricula der Mitgliedsstaaten basiert. Die Berliner Europaschulen dagegen stehen jedem offen. Ihre Lehrpläne entsprechen weitgehend denen der normalen Regelschule in Deutschland. Am Ende steht in jedem Fall ein regulärer deutscher Abschluß, mittlere Reife oder Abitur.

Da das Projekt seit 1992 von unten aufgebaut wird, gibt es die Berliner Europaschulen bisher nur in den ersten Jahrgängen der Grundschule. Neben den regulären Zügen wurden an neun Grundschulen Klassen der Europaschule eingerichtet. Sie bestehen je zur Hälfte aus deutschsprachigen Kindern und Kindern mit einer anderen Muttersprache. Der größte Teil des Unterrichts läuft zweisprachig. Dafür werden Lehrer eingestellt, deren Muttersprache die jeweilige Partnersprache der Europaschule ist. Spielerisch werden die Schüler mit Struktur und Wortschatz der Partnersprache vertraut. Lesen und Schreiben lernen sie getrennt in ihrer Muttersprache. Hinzu kommen zusätzliche Unterrichtsstunden in der Partnersprache.

Der Schulversuch sieht neben dem regulären Unterricht auch eine Nachmittagsbetreuung vor. Eine wichtige Ergänzung, damit beide Sprachen möglichst gleichwertig vermittelt werden. „Als Umgebungssprache ist Deutsch sehr dominant“, meint Isa Schattner von der Initiative für eine deutsch-portugiesische Europaschule. „Wenn muttersprachliche ErzieherInnen der Partnersprache die Kinder nachmittags betreuen, wird das etwas kompensiert.“

Die Europaschule will keine elitäre Einrichtung für besonders begabte Schüler sein. Nach dem sechsten Schuljahr soll sie deshalb als Gesamtschule weitergeführt werden, so daß Abschlüsse auf jedem Niveau möglich sind. „Eine Superbegabung ist gar nicht nötig“, meint Karin Kohtz, Professorin für Grundschulpädagogik an der Freien Universität Berlin, „sofern die fremde Sprache spielerisch vermittelt und die Schüler nicht mit Grammatik überlastet werden. Da Kinder bis etwa 14 eine Sprache akzentfrei lernen, ist der frühe Unterricht prinzipiell eine ausgezeichnete Sache.“ Die meisten bewältigen den zweisprachigen Unterricht ohne Mühe. „Schwierigkeiten“, resümiert Gisela Magiera, „gibt es nur, wenn ein Kind keine Sprache richtig beherrscht.“ Wer überfordert ist, kann nach dem Probejahr in die normalen Klassen der Schule wechseln.

Bisher hat sich das Pilotprojekt bewährt. Nachdem ursprünglich nur die Sprachen der Alliierten als Partnersprachen angeboten wurden, gibt es nun Spanisch und Italienisch. Im Schuljahr 1995/96 kommt voraussichtlich Portugiesisch hinzu, 42 Anmeldungen für das nächste Schuljahr gibt es schon. Für einen deutsch-türkischen Zug laufen Gespräche mit zwei Kreuzberger Schulen. Eine Initiative bemüht sich um Griechisch.

Dennoch ist die Umsetzung des Modellprojekts nicht ohne Schwierigkeiten. Burkhart Sellin, Vorsitzender der „Arbeitsgemeinschaft Internationale Schule für Europa“, kritisiert vor allem die schlechtere Bezahlung der nichtdeutschen Lehrer. Die Ausbildung der ausländischen Lehrer wird nicht als gleichwertig anerkannt. Deshalb bekommen sie zum Teil sogar weniger Geld als deutsche VorklassenlehrerInnen. „Das ist nicht gerechtfertigt“, findet Sellin, „selbst nach den Richtlinien des Abgeordnetenhauses zur Anerkennung der Ausbildung könnte man anders verfahren.“ Außerdem gebe es nicht genug Gelder, um eine qualifizierte Fortbildung und wissenschaftliche Begleitung der Lehrer zu gewährleisten.

Ein Dorn im Auge ist den Befürwortern der Europaschule auch das Losverfahren. Denn in der Regel möchten mehr deutschsprachige Schüler an die Europaschule. Dann entscheidet das Los. „Das muß korrigiert werden“, sagt Burkhart Sellin, „denn durch das Losverfahren fallen oft gerade Kinder heraus, die besonders geeignet wären, zum Beispiel aus bilingualen Elternhäusern.“

Noch steckt das Projekt in den Kinderschuhen. Lehrpläne und Richtlinien für die weiterführende Schule sind noch nicht ausgearbeitet. Wie der Unterricht in den Europaschulen dann aussehen soll, ist noch unklar. Welche internationalen oder bilateralen Abschlüsse die Europaschüler zusätzlich erwerben könnten, wird noch ausgehandelt. „Weil die ersten Klassen noch nicht so weit sind“, kritisiert Peter Knöpke, kommissarischer Schulleiter des Gymnasiums Reinickendorf, „schiebt der Berliner Senat die Ausarbeitung der Rahmenpläne auf die lange Bank.“