Seit 200 Jahren eine Schule fürs einfache Volk

■ Das dreigliedrige Schulsystem ist ein Relikt aus vordemokratischen Zeiten

Bildungspolitische Restauration hat dafür gesorgt, daß Deutschland über ein fast 200 Jahre altes Schulsystem verfügt. Anfang des neunzehnten Jahrhunderts führt man die Volksschule als Schule für das einfache Volk ein. Lernen sollen die Schüler hier nur „die praktischen Pflichten des Alltagslebens“. Wissenschaftliche Bildung für alle würde den gefährlichen Wunsch nach Gleichberechtigung und Mitbestimmung nähren und ist daher einer kleinen Elite von Gymnasiasten vorbehalten. Die setzt natürlich alles daran, daß das auch so bleibt. 1885 erreichten in Preußen kümmerliche 0,8 Prozent eines Jahrgangs das Abitur. Der Besuch einer der drei Schulformen hängt allein vom gesellschaftlichen Stand und Vermögen der Eltern ab. Er entscheidet andererseits über späteren gesellschaftlichen Stand und Vermögen des Kindes. Das deutsche Bürgertum, die politische Emanzipation notorisch verpassend, schafft sich seine Ersatzideologie des "geistigen Adels": den Bildungsbürger.

Auch größere Versuche, das Bildungswesen zu demokratisieren, scheitern – 1848, 1914 und 1945. Andere Industriestaaten – etwa die skandinavischen Länder – haben ihr Schulsystem längst reformiert, als in den sechziger Jahren endlich auch in Deutschland der Strukturwandel in greifbare Nähe rückt. Für Sozialdemokraten, Pädagogen und auch den deutschen Bildungsrat heißt die Lösung: Gesamtschule. Sie vereinigt unterschiedliche Bildungswege in einer einzigen Schule. Das soll Chancengleichheit bringen: Alle Schüler besuchen die gleiche Schule. Zumindest in der integrativen Gesamtschule ist der Zusammenhang zwischen Schullaufbahn und sozialer Herkunft geringer. Innnerhalb dieser Schule verzweigen sich dann die verschiedenen Bildungswege: Die Schüler besuchen verschiedene Kurse, je nach Fähigkeiten und Leistungen.

Ende der sechziger Jahre entstehen zahlreiche Versuchsschulen. Da aber das dreigliedrige System als Konkurrenzangebot weiterexistiert, kann die Gesamtschule ihrem eigenen Konzept nicht gerecht werden. Dabei sind die Ergebnisse des Gesamtschulprojekts durchaus positiv. Es gibt wesentlich weniger Abgänger ohne Abschluß. Das ist von Bedeutung, da realistische Schätzungen für das Jahr 2000 mit über zwei Millionen Deutschen unter 40 Jahren ohne Schulabschluß rechnen.

Apropos Chancenlosigkeit. Als Nachfolgerin der Volksschule hat die Hauptschule deren vordemokratischen Charakter zwar nie überwunden. Gewandelt haben sich aber die Chancen für die Hauptschulabsolventen – sie sinken ins Bodenlose. Der Realschulabschluß gilt heute als die Mindestnorm allgemeiner Grundbildung. Hauptschüler haben da auf dem Arbeitsmarkt nicht selten von vornherein verloren. Der Soziologe Ulrich Beck sieht den „Hauptschulabschluß historisch in die Nähe zum Analphabetentum“ rücken. Stefan Haendschke