Versteinerte Gesichter

■ Wie Verlierer um Selbstbeherrschung ringen. Wer randaliert, wird hinausgeführt, wer sich ruiniert, wird gesperrt / 15 Jahre Bremer Spielbank – eine Reportage

Blaß ist der 50jährige. Jetzt tauscht er einen weiteren Tausendmarkschein gegen Jetons ein. Zehn Minuten später hat er nur noch 100 Mark. Erneut rollt die Elfenbeinkugel, nach der vierten Umdrehung das „Nichts geht mehr“, der Mann kann seinen letzten Jeton gerade noch auf die „7“ setzen. Die Kugel hopst über die silbernen Brems-rhomben – auf die „23“. Der Spieler zeigt keine Enttäuschung, nur die Mundwinkel saugt er noch ein bißchen mehr nach innen. Die Gäste der Bremer Spielbank in der Böttcherstraße kreischen weder bei Gewinnen, noch fluchen sie laut bei Verlusten. Ein durch die zusammengebissenen Zähne gezischtes „Scheiße“ ist das höchste der Gefühle. Es ist fast still, der weinrote Teppichboden schluckt jedes nervöse Fußklopfen, nur der Klavierspieler verbreitet gedämpfte Munterkeit. Sollte doch mal ein Alkoholisierter laut werden, wird er hinausgeleitet.

„Gepflegte Unterhaltung“ lautet das Motto der Spielbankleitung. Besonders viel Wert wird auf die Kleidung gelegt: Während man in Hannover und Bad Zwischenahn auch mit Jeans und offenem Hemd reingelassen wird, müssen männliche Gäste in Bremen Jackett und Krawatte tragen – notfalls auszuleihen an der Rezeption. Auf den Toiletten stehen außerdem Schuhputzautomaten – einen Fusselroller allerdings sucht man vergebens. Für schwitzige Hände liegen Erfrischungstücher aus.

Von den 30 Prozent Frauen unter den Gästen erwartet die Spielbank, daß sie selbst auf gepflegtes Äußeres achten. Doppelreihige Perlenketten aber sieht man selten. „Denn heute“, sagt Walter Schmidt, einer von vier Saalchefs, „heute ist die Spielbank nichts Elitäres mehr, sondern eine normale Sache zum Ausgehen, auch für den Klempner oder die Angestellte.“ Der Eintritt kostet fünf Mark, Mindestspieleinsatz fünf Mark, kein Spielzwang.

Trotz Kleiderordnung und Benimmregeln – bei den Croupiers sieht die Geschäftsleitung einen gewissen lockeren Ton durchaus gern – sofern er die Gäste nicht beleidigt. Die alte Dame im roten Jackett jedenfalls, die jetzt zwei Hunderter aus ihrer beigen Börse nestelt und alles setzt, schaut indigniert, als ihr nach dem Spiel der Gewinn von 30 Mark mit einem „Hier Ihre abgespeckte Version“ zugeschoben wird. Und als ein Gast beim Setzen ein Jetonhäufchen umwirft, verdreht der junge Croupier die Augen und murmelt „Anfänger“.

Anfänger erkennt man vor allem daran, daß sie auf die „einfachen Chancen“ setzen: rot oder schwarz, gerade oder ungerade ... Da ist die Gewinnhäufigkeit hoch, doch es wird nur der doppelte Einsatz ausgezahlt. Wer riskant auf eine einzige Zahl setzt, bekommt dagegen das 36fache zurück. Französisch muß man übrigens nicht können, in Bremen hört man keine „Rien ne va plus“. Wer allerdings die Spielsteine Chips statt Jetons nennt, bekommt ein „Einpacken oder hier essen?“ zu hören.

„Roulette ist ein reines Glücksspiel und das fairste von allen“, sagt Saalchef Schmidt. In Aachen soll einer mal 1,7 Millionen mit nachhause genommen haben. Der ward nie mehr in der Spielbank gesehen. Manche der Gäste warten allerdings bis morgens um drei Uhr vergeblich auf ihr Glück – der durchschnittliche Verlust eines Gastes liegt bei 170 Mark. Der junge Versicherungsangestellte aus Bremen-Nord aber hat sich ein Limit von 100 Mark gesetzt, mehr nimmt er gar nicht erst mit, auch keine Euroschecks. Kreditkarten nimmt die Bremer Spielbank ohnehin nicht an – nicht zuletzt, um eine gewisse Hemmschwelle zu erhalten.

Und wenn sich einer doch ruiniert? Erfahrene Croupiers müssen rechtzeitig einschreiten, sagt Saalchef Schmidt: Da spielt ein Gast seit Monaten zweimal in der Woche, immer mit 50-Mark-Jetons. Plötzlich setzt er nur noch 5-Mark-Jetons, wirkt fahrig, schwitzt. Verliert weiter. Setzt schließlich das Maximum, zum Beispiel 7.000 Mark auf Rot, verliert – dann nimmt ihn der Saalchef mit ins Büro, fragt nach der finanziellen Situation, bittet bei großen Bedenken um die Erlaubnis, sich bei der Schufa erkundigen zu dürfen ... Die Spielbank kann Gäste sperren – jedes Jahr werden 50 bis 100 Gäste gesperrt. Gattinnen können ihren spielenden Mann jedoch nur mithilfe eines Anwalts sperren lassen.

Verlierer am Samstagabend ist zum Beispiel ein junges Paar. Seit Stunden sitzt es am Roulettetisch, trinkt nichts, raucht nur gelegentlich eine Marlboro. Er spielt mit 100ern, sie mit 10ern, sie hat noch einen Stapel. Er setzt 200 Mark auf das untere Drittel – wieder nichts. Er schaut, wie wenn er persönlich gekränkt worden wäre. Sie tätschelt ihm den Arm. Andere gehen nach dem Setzen um die Ecke oder halten sich gar die Ohren zu – um den Moment der Entscheidung nicht mitzubekommen.

An der Theke bettelt unterdessen eine junge Frau ihren Mann, einen Buchhalter in Rente, um weitere 150 Mark an. Endlich zückt er die Brieftasche. Eigentlich wollte er diesmal gar nicht mitkommen, sondern lieber mit einem Freund einen „guten Film“ im Fernsehen anschauen. Jetzt sitzt er den ganzen Abend an der Theke, schaut vor sich ihn. Spricht man hier nicht miteinander? „Nee, Sie sind die erste überhaupt, mit der ich spreche.“

Auch die Spielbank schließt an manchen Tagen mit einem Minus ab. Trotzdem fuhr 1994 die Bremer Spielbank einen Brutto-Spielertrag von 37 Millionen Mark ein. Die Bremer stehen damit an siebter Stelle der 40 deutschen Spielbanken. 80 Prozent des Ertrags gehen an die Stiftung Wohnliche Stadt und an den Finanzsenator. Die über 100 Angestellten, davon 41 männliche und 6 weibliche „Spieltechniker“, werden allein aus dem Trinkgeld-Topf, dem Tronc, bezahlt. Ungeschriebenes Gesetz: Wer auf einer einzigen Zahl gewinnt (Plein), sagt „Ein Stück für die Angestellten“. Dann versenkt der Croupier einen Jeton im Sparschlitz des Tableaus. Pro Abend kommen so in Bremen 5-17.000 Mark zusammen.

Ein Tischchef mit 10 Jahren Erfahrung bekommt als garantierten Lohn 5.000 Mark brutto. Der Tischchef sitzt erhöht hinter dem Kessel und beaufsichtigt seine drei Croupiers oder klingelt die Pagen herbei, damit sie die Aschenbecher auspinseln. An den Längsseiten des Tableaus sitzen die Drehcroupiers, die die Kugel anschnipsen, Gewinne auszahlen, Annoncen annehmen und für die Gäste setzen. Ein vollwertiger Drehcroupier ist man erst nach 6 bis 7 Jahren Berufserfahrung. Am Kopf des Tableaus sitzt der Kopfcroupier: oft StudentInnen, die gerade ihren ersten 10wöchigen Lehrgang hinter sich haben. BewerberInnen dürfen höchstens 25 Jahre alt sein und müssen ein fotografisches Gedächtnis für Personen und Zahlen haben. Denn auch wenn der Tisch so voll mit Jetons liegt, daß die Zahlen darunter verschwinden, sollten die Croupiers noch wissen, wer welches Stück gelegt hat – für den Fall von Streitigkeiten.

Außerdem müssen Croupiers ein „emotionsloses Auftreten“ zeigen. Und trotzdem einfühlsam sein können. „Hege und pflege die Gäste“, schärft Saalchef Schmidt den Croupiers ein. Er spricht einen Gast auch schon mal an, wenn der unter der Bürde des Verlierens zusammenzubrechen droht. Der kriegt dann an der Bar einen ausgegeben und darf solange von seinem Spiel, seinen nutzlosen Taktiken, erzählen, bis er ruhig nachhause gehen kann.

„Ah, mein Rücken“, sagt der Drehcroupier, als er zur Pause abgelöst wird. Nachtarbeit, Dauerkonzentration ... nur 25 Prozent der Croupiers erreichen überhaupt das Rentenalter. Wer heute 50 ist, hat noch jene Zeiten mitgemacht, als es sommers eine Urlaubssperre gab und nur einen freien Tag pro Woche. Saalchef Schmidt hat selbst darunter gelitten. Heute macht er die Dienstpläne, heute gibt es zwei freie Tage und keine Urlaubssperre mehr. Außerdem hat der Konzern Westdeutsche Spielbanken, zu dem die Bremer Spielbank gehört, eine Arbeitspsychologin eingestellt. Die bewertet das Streßverarbeitungs-Vermögen jedes einzelnen Croupiers. Nutzt er oder sie die Strategien Bagatellisieren, Schuldabwehr, Ersatzbefriedigung...? Saalchef Schmidt wird attestiert, daß er Streßsituationen immer mit sofortigen Maßnahmen reguliert. Kaum Transpiration, kein Herzrasen. Schmidt, heute 51, will seine Rente genießen. Dem Streß ein Ende gesetzt hat nun auch das junge Verliererpaar. Es sitzt am Tresen und berauscht sich an Hartem. Manch andere betrügen in solcher Situation: setzen nach, nachdem die Kugel gefallen ist, oder setzen nur scheinbar einen Jeton auf ein bereits liegendes Häufchen, heben tatsächlich aber mehrere Jetons ab. Zu 99 Prozent werden sie dabei erwischt. Christine Holch