König der Piraten

Publikumslieblinge Andre Agassi und Mary Pierce gewannen die Australian Open in Melbourne  ■ Von Matti Lieske

Berlin (taz) – Zumindest im Sport verschlang im letzten Jahr keine Krise soviel Druckerschwärze wie die des Welttennis. Jedes noch so winzige Turnier war Anlaß genug, die grassierende Langeweile zu beschwören, sinkende Einschaltquoten und flüchtende Sponsoren schienen den Trend zu bestätigen, die Aussichten muteten düster an. Der nüchterne Pete Sampras als Weltranglistenführer der nächsten zehn Jahre; Grundlinienwusel Arantxa Sanchez-Vicario als Nummer eins in einem Haufen wohlgenährter Ballprüglerinnen, gelegentlich belästigt von der dauerverletzten Steffi Graf; der Davis-Cup als blasse Karikatur seiner selbst – oder weiß noch jemand, wer 1994 den Pott gegen wen gewann?

Im fernen Australien, wegen der nächtlichen Spielzeiten hierzulande kaum bemerkt, erhob der am Boden liegende Mediengigant nun jedoch sein geschwächtes Haupt, das sich als ein im wesentlichen kahlgeschorenes entpuppte. Der seiner Hinterhauptlocken beraubte Andre Agassi begeisterte das Publikum mit spektakulärem Tennis, geriet während des gesamten Turnieres nie in Gefahr, ein Match zu verlieren, und schlug im Finale auch Pete Sampras nach anfänglichen und mittelfristigen Problemen mit 4:6, 6:1, 7:6 (8:6), 6:4. Bei den vielgescholtenen Frauen siegte ebenfalls die Favoritin der Massen. Mary Pierce (20), dazu auserkoren, den durch Sabatinis Absturz verlorengegangenen Glamour zurückzubringen, bezwang Sanchez-Vicario sicher mit 6:3, 6:2.

Im Blickpunkt stand jedoch Andre Agassi, der plötzlich sogar den stets als „Langweiler“ abqualifizierten Tennis-Ästheten Pete Sampras zur spannenden Figur werden läßt. Der Wettstreit der beiden besten Spieler soll künftig im großen Stil jene Publicity-trächtige Wirkung zeitigen, die Boris Becker und Michael Stich im deutschen Bonsai-Format erreichen – allerdings ohne die bei letzteren dominierende Giftigkeit. „Eine Sampras-Agassi-Rivalität ist großartig für den Sport“, schwärmt Ivan Blumenberg, Vizepräsident der Sportmanagement-Gesellschaft ProServ, „ein schillernder Showman auf der einen Seite gegen einen klassischen Tennisspieler alter Schule auf der anderen Seite gibt jedem etwas, für das er sich begeistern kann“.

Im Finale von Melbourne gab es vor 15.000 Zuschauern zuerst einmal großartiges Tennis. Nach dem Verlust des ersten Satzes schien Agassi einem sicheren Sieg entgegenzusteuern, aber bei 3:0-Führung im Tie-Break des dritten Durchgangs wurde er plötzlich nachlässig. „Einen kurzen Moment hatte ich vergessen, wer auf der anderen Seite steht“, erzählte später der „König der Piraten“, wie ihn Transparente wegen seines von John McEnroe abgeschauten Kopftuches nannten. Auf einmal lag Sampras 5:3 vorn, aber Agassi riß sich zusammen und entschied den Satz mit einem genialen Stoppball doch noch für sich. „Der Schlüssel zum Sieg“, waren sich beide einig und lobten ansonsten eifrig den Gegner. „Er ist eine sehr tiefe Pesönlichkeit, eine Inspiration“, sagte Agassi. „Was er auf dem Platz gezeigt hat, war sensationell“, meinte Sampras.

Durch seinen dritten Grand- Slam-Titel nach Wimbledon 92 und den US Open 94 verkürzte Agassi, die Nummer zwei der Weltrangliste, den Abstand zu Sampras von 1.700 auf 800 Punkte, und für 1995 hat er große Pläne. Wie jeder Australian-Open-Sieger will er den Grand Slam und traut ihn sich durchaus zu, auch wenn er über den nächsten dazu erforderlichen Titel noch nicht reden mochte: „Laßt mich mit Paris in Ruhe.“

Seine offenbar glückliche Liaison mit Brooke Shields, die in Melbourne fehlte, weil sie auf dem Broadway bei „Grease“ mitspielt, hat Agassis Privatleben beruhigt, die Gründung einer eigenen Firma, „Andre Agassi's Enterprises“, die von seinem Bruder und einem Freund geleitet wird, brachte seine geschäftlichen Belange ins Lot. Außerdem hat er nach eigenen Worten die Lust am Tennis wiedergefunden. „Die Gründung der Firma erlaubte mir, alles in Frage zu stellen, was ich tat, und dabei stellte ich fest, daß das Tennis das einzige war, was den Standards meines restlichen Lebens nicht gerecht wurde.“ Die profunde Selbstanalyse hatte zur Folge, daß er nun nicht nur der populärste, sondern auch der beste Tennisspieler sein möchte. Ähnliche Motivationskrisen wie in der Vergangenheit, davon ist der 24jährige aus Las Vegas überzeugt, wird es künftig nicht mehr geben: „Ich bin älter geworden und zielstrebiger.“