Kulturhauptstadt nur als Phantom

Berlins Kultursenator Ulrich Roloff-Momin wird bei der heutigen Jahrespressekonferenz seine Amtszeit resümieren und die finanzielle Notlage aussitzen / Der Bund wird erst 1996 helfen  ■ Aus Berlin Petra Kohse

1995 wird Berlin „einen der ereignisreichsten Kulturjahrgänge der Nachkriegszeit“ erleben, prophezeite der Berliner Kultursenator Ulrich Roloff-Momin (parteilos) zum Jahreswechsel und riet, sich auf wenig Schlaf einzurichten. Er meinte damit die zahlreichen Veranstaltungen, insbesondere special events wie Christos Reichstagsverhüllung oder die Ausstellung „Moskau–Berlin/Berlin– Moskau“ – ganz zu schweigen von den regulären Festivals wie Berlinale, Theatertreffen etc. Trotz Finanzknappheit finde das alles weiterhin statt, freute sich der Kultursenator. So ist er eben. Für ihn ist ein Glas stets gefüllt, und sei es auch nur mit dem letzten Schluck.

Deswegen wird Roloff-Momin auch auf seiner heutigen Jahrespressekonferenz kaum Trübsal blasen. Schon im letzten Jahr bescheinigte er sich bei gleicher Gelegenheit zumindest einen quantitaven Erfolg: Von täglich 991 Veranstaltungen im Jahr 1991 auf 1.437 im Jahr 1994 sei das kulturelle Angebot gewachsen. Um Zahlen ist man in Berlin generell nicht verlegen. Im Mai letzten Jahres listete der Senator die kulturelle Substanz der Stadt auf: 4.000 bildende KünstlerInnen, 500 SchriftstellerInnen, mehr als 1.000 Musikgruppen, ungefähr 500 freie Theatergruppen, 131 Kinos, 39 regelmäßig spielende größere Bühnen, 881 Chöre, zehn Orchester, 256 öffentliche Bibliotheken und 167 Museen, Schlösser und Gärten.

Das beeindruckt aber nur so lange, bis man das Verhältnis auf die fast vier Millionen EinwohnerInnen umrechnet, die hier auf über 880 Quadratkilometern leben. Aber Zahlen sind immer nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich erschreckend ist jedoch die finanzielle Situation: Seit die Hauptstadt der Republik und das Fenster zum Westen, seit also Ost- und WestBerlin gemeinsame Sache machen, geht's immer nur bergab. Seit 1991 sind 600 Millionen Mark direkter und indirekter Zuschüsse für die Berliner Kultur gestrichen worden. Der Bund, der im Rahmen eines kulturellen Infrastrukturprogramms und eines Substanzerhaltungsprogrammes 1993 noch etwa 140 Millionen Mark zum Landeshaushalt beisteuerte, gibt in diesem Jahr keinen Pfennig mehr. Davon ausgenommen sind einzelne Institutionen, die direkt gefördert werden, wie das Haus der Kulturen der Welt, an dem der Bund mit 31 Prozent beteiligt ist, und das Deutsche Historische Museum, das völlig von Bonn finanziert wird.

Ab 1996 soll Berlin vom Bund wieder 60 Millionen Mark für Kultur erhalten. Der Senat indessen fordert 285 Millionen Mark – aber auch das würde nicht mehr als 40 Prozent der gesamten Ausgaben für Kultur ausmachen. Eine bescheidene Forderung, wenn man bedenkt, daß der Stadt Bonn 1989 die Übernahme von 70 Prozent aller Kulturausgaben zugesichert wurden. Im Augenblick ist jedoch nicht die unzureichende Finanzierung des nächsten Jahres die Hauptsorge, sondern die nicht vorhandene in diesem Jahr.

Im Juli letzten Jahres war in der „politischen Phantasie“ des Kultursenators noch „kein Platz“ dafür, sich vorzustellen, daß Bonn Berlin hängenlassen könnte. Dennoch sollte er allmählich realisieren, daß der Bund eine Politik der Austrocknung betreibt. Ein bis zwei Opern oder 40 kleinere Institutionen müßten geschlossen werden, um das Soll des Jahres 1995 zu meistern. Wobei Abwicklungen in der Regel nicht sofort Geld einsparen. Andererseits werden sichere Gelder vorauseilend umverteilt, wo es keinen Sinn macht: Die vier bestehenden Literaturhäuser etwa müssen Geld abzwacken, um Deutschlands einziges Kinderliteraturhaus zu finanzieren, das nicht im Etat vorgesehen ist.

Seit der Über-Nacht-Schließung des Schillertheaters im Sommer 1993 kennt man Roloff-Momins Neigung, Probleme auszusitzen. Wohl deswegen hat sich der „Rat für die Künste“, ein Zusammenschluß spartenübergreifender Kulturschaffender (s. taz vom 13. 1.), gebildet und trommelt nun in eigener Sache. Keinen Tag länger dürfe die Berliner Kulturfinanzierung allein Berliner Sache bleiben – Hauptstadtvertrag Kultur jetzt! Das Zweckbündnis von Subventionsbetrieben und Off-Szene dient der Forderung nach einem pauschalen Strukturerhalt.

Den wird ein Hauptstadtvertrag Kultur natürlich auch im besten Fall nicht gewähren können. In ihm wird vielmehr festgelegt, an welchen kulturellen Einrichtungen die Bundesrepublik überhaupt ein so besonderes Interesse hat, daß sie auch bereit ist, diese zu finanzieren. Während derzeit mit Bonn also verhandelt wird, welche Institutionen erhalten werden müssen, versucht der „Rat für die Künste“ zu ignorieren, daß es ohne Verteilungskämpfe und Strukturreformen nicht abgehen wird. Man wünscht sich ein „Ende des Föderalismus“ und damit wohl – höfische Privilegien.

Das geht natürlich nicht. Die Hauptstadt hat das Recht auf eine überproportionale Förderung, muß aber auch Konzessionen machen. Berlin ist ja bisher stets satt gefüttert worden. Allerdings wurde auch nicht gepraßt. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) errechnete 1992, daß Berlin pro Person aufs Jahr gerechnet 283 Mark für Kultur ausgab, das ist weit weniger als Frankfurt/Main (681 Mark) oder Stuttgart (344 Mark). Und die Kultur kostet das Land 1995 nicht nur 2,77 Prozent des Haushalts, sondern sie bringt ja auch Geld! Nach der DIW-Berechnung ist der Kulturbetrieb in Berlin mit 45.000 Beschäftigten ein größerer unmittelbarer Wirtschaftszweig als Banken oder Versicherungen. Und etwa 16 Prozent der TouristInnen kommen vor allem wegen des kulturellen Angebots hierher. Summa summarum: Letztlich habe das Land – nach der Studie von 1992 – 300 Millionen Mark Steuern verdient.

Recht hatte also der Senator, als er im Mai 1994 sagte: „Berlin hat keinen Meeresstrand und keine Alpen. Manchmal habe ich den Eindruck, daß wir vergessen haben, uns auf unsere eigene Stärke zu besinnen. Die liegt im Bereich von Wissenschaft und Kultur.“ Nur: Was tut er dafür?

Kulturpolitik in Berlin ist ein Phantom. Es scheint, als würde die Verantwortung für die Problemlösung an die Kulturschaffenden delegiert. Als Lobbyisten in eigener Sache sind sie damit naturgemäß überfordert. Deshalb wird 1995 durchaus ein ereignisreiches Jahr werden, aber wohl weniger in künstlerischer Hinsicht.