Schwarze Pilze

Wie Tschechows „Schwestern“: In Einar Schleefs „Totentrompeten“, in Schwerin uraufgeführt, hadern alte Frauen mit ihrem Leben  ■ Von Dirk Nümann

Nach Moskau! Seit hundert Jahren hallt der Tschechow-Ruf durch die Theater, sehnsuchtsvoll ausgestoßen von drei Schwestern, die Hunger nach Abenteuer haben, die loslaufen wollen in die große schöne Welt – und doch nicht von der Stelle kommen: ein Ruf, aber ein vergeblicher.

Nach Moskau!, „wimmert“ es auch am Ende von Einar Schleefs Stück „Totentrompeten“, das gleichfalls von drei Frauen erzählt, die sich wegträumen möchten aus ihrem so gewöhnlichen, so grauen, so tristen Dasein in der DDR-Provinz. Drei Schwestern im Geiste freilich, die in die Jahre gekommen sind, knapp siebzig, und doch einmal, ein letztes Mal dem Nest Sangerhausen bei Halle entkommen möchten: „Wie die Fliegen am Leim festgeklebt. Zappeln, zappeln.“

Während bei Tschechow die drei vergleichsweise jungen Damen passiv ihr langweiliges Leben ertragen, nehmen die „alten Schachteln am Abend“ von Schleef ihr Schicksal selbst in die Hand. Lotte plante mit ihrem Freund eine Reise nach Moskau, dann hatte er sie verlassen; nun plant sie eine Reise ins Jenseits; selbstbestimmt will sie zumindest dem Leben ein Ende machen: Sie dreht den Gashahn auf, sie demoliert Autos, sie verstummt; prompt wird sie weggesperrt ins Irrenhaus. Auch Trude und Elly, ihre beiden Freundinnen, wollen gerne Reißaus nehmen – nach Moskau! – und zwar mit eben der von Lotte bezahlten, aber ja nicht mehr benötigten Reise, Erbmasse sozusagen. Doch dazu muß Lotte erst mal sterben, woran sie gerade durch Trude und Elly gehindert wird: Sie retten Lotte vor dem Gastod, entführen sie aus dem Krankenhaus, versorgen und pflegen sie, erinnern freilich auch penetrant daran, doch endlich, bittschön, eine kleine Unterschrift nur, das Testament zu machen.

Anton P. Tschechow und Einar Schleef – der Vergleich scheint unzulässig, doch drängt er sich auf. Beide behandeln gescheiterte Flucht- und Flugversuche aus einer im Stillstand begriffenen, wenn auch politisch ganz unterschiedlichen Gesellschaft. Beide zeigen den Stillstand durch Verzicht auf dramatische Handlung, als Stillstand auch der Kommunikation; der Monolog – die Form der Nichtbewegung. Doch während Tschechow eine spöttische Draufsicht auf die abgelebte, sogenannte spätbürgerliche Gesellschaft wirft, schildert Schleef Innenansichten von realsozialistischen Biographien. Innenansichten von beschädigten Leben, die immer aufs allgemein Menschliche zielen: statt Zeitdrama Lebenskomödie und Lebenstragödie, Lebensspiel sein wollen.

Schon der Titel „Totentrompeten“ verweist auf die erstrebten Tiefen des Stückes. Erst mal sind Totentrompeten schwarze Pilze, häßlich, aber schmackhaft; dann sind es natürlich auch die Trompeten für die Toten, die einen Untergang verkünden, der durchaus positiv wirken kann: das Ende des Lebens und das Ende eines Gesellschaftssystems – nach Einar Schleef – tiefschwarz und doch erhellend; häßlich, aber schmackhaft. Warum? Das ist ein andere Episode.

Schleef – ein Regisseur, aber auch ein Dichter des Wortes, nicht der Fabel – hat diesen Text Ende der achtziger Jahre geschrieben; darin verarbeitet er eine Episode aus seinem großen, sperrigen, monolithischen Roman über seine Mutter „Gertrud“: „Schotter einer deutschen Familientragödie“, Sprachschotter, durchtränkt von der DDR, verknappte, obsessive, poetische Sätze. Eine Mischung aus Achternbusch, Holz und Stramm, in der die subjektiven Erlebnisse verallgemeinert und zum Kunst-Stück erhöht werden.

Ernst E. Binder, Regisseur der vom forum stadtpark theater Graz und dem Staatstheater in Schwerin koproduzierten Uraufführung, hat nun das Verhältnis zwischen realistischem DDR-Mief und Kunstsprache umgekehrt: Er läßt die oft rohe, aggressive Sprache, durch die sich freilich die empfindsamen Alten vor der Umwelt schützen, ganz leicht und volkstheaterhaft und humorig erklingen; dafür rückt er aber die Szenerie und Spielweise ins künstlerisch Erhabene, ins Abstrakte und Epische.

So wird in der Kammerbühne (Luise Czerwonatis) jeder Verweis auf die DDR-Wirklichkeit unterlassen: todschwarze Vorhänge, die Schauspielerinnen zumeist kalt ausgeleuchtet im Zentrum oder an der Rampe der Bühne, projezierte Zwischentitel, die die Handlung anzeigen, die manchmal gespielt, manchmal aber auch nur gesprochen wird. So sieht man zwar Trude (Lore Tappe: breit, kollerig, lebensdrall) und Elly (klein, zäh, berechnend) im goldenen Bett, einer Art goldenem Käfig, „bratschen“, Bockwurst fressen oder à la Lotti Huber schwoofen; andererseits sieht man die Damen nicht, wie sie eine „Tür knacken“, Lotte (Ute Kämpfer: starr, entsetzt, pathologisch) aus dem Haus „bugsieren“, wie eine ins Grab fällt, wie sie in einem Wäschekorb Lotte aus dem Krankenhaus befreien.

Was durch die allzu gefällige Sprachbehandlung geschmeidig und eingängig gemacht worden ist, soll durch diese eigenwillig verfremdet verfremdete Spielweise widerborstig wirken. Und was an Verzweiflung nicht gezeigt wird, soll wenigstens zu hören sein: So wird jede Szene musikalisch kommentiert, mit Kyrie-Gesang, Stimmengegurgel, Totentrompeten- Gedröhn, dem Chor der roten Armee – lauter musikalischen Ausrufezeichen.

Dies ist Binders Konzept, dies ist zum Scheitern verurteilt. Der krude Realismus als Kritik in der DDR wird unterschlagen, so daß man sich fragt, warum die überhaupt abhauen wollen. Das Drama des Alters bleibt uninszeniert – daß natürlich Todesangst unter der oberflächlichen Lebenslust verborgen liegt, wird in Schwerin nicht gespielt. Und es gelingt Binder auch nicht, aus der Alterskomödie eine Lebenstragödie zu machen, sie ins Welthaltige zu heben. Er gibt nur a bisserl Volkstheater, a bisserl Episches Theater, a bisserl Humor und ein bisserl Trompetenbrimborium – und das ist halt nur a bisserl interessant. Da kann er sich nur bei den drei recht guten Aktricen bedanken, daß die Inszenierung nicht vollkommen scheitert. Oder war das etwa seine Absicht? Immerhin läuft die Veranstaltung ja in Schwerin unter dem pogrammatischen Titel „Vom Glück des Scheiterns“.

„Totentrompeten“ von Einar Schleef. Regie: Ernst M. Binder, Bühne: Luise Czerwonatis. Mit Gretel Müller-Liebers, Lore Tappe, Ute Kämpfer. Nächste Vorstellung im Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin, am 24. Februar; im forum stadtpark theater Graz, am 7. Februar.