■ Nach den Auschwitz-Gedenkfeiern
: Erbarmen mit den Polen

Vor gut und weniger gut gemeinten Ratschlägen kann sich Polen zur Zeit wirklich kaum noch retten. Nachdem bisher immer beklagt wurde, Auschwitz zerfalle, soll es nun plötzlich, kaum haben die ersten Renovierungen begonnen, bombardiert werden. So will es Henryk M. Broder (taz vom 27.1., Seite 14) , der wohl auch am lautesten protestiert hätte, wären die Polen diesem Rat gefolgt. Immerhin ist nun klar, daß der Zeigefinger, mit dem die Polen zur Zeit über ihren Antisemitismus belehrt werden, keinesfalls nur ein linker ist. Nach den Feiern zum fünfzigsten Jahrestag der Befreiung von Auschwitz ist die Weltpresse voll solcher und anderer Belehrungen.

Es ist richtig, daß die Feiern chaotisch organisiert wurden und daß Polens Staatspräsident Lech Walesa bei diesen Feiern nicht nur zu viele, sondern auch zu schlechte Reden gehalten hat. Vor dem Todesblock sprach er mehr über sich selbst als über Auschwitz, und das Wort Juden kam ihm in drei Reden nur in einem Satz über die Lippen. Die Reden waren voller Instinktlosigkeiten, historischer Fehler und eitler Selbstdarstellung. Das alles ist richtig und nur mit der Tatsache zu erklären, daß in diesem Jahr in Polen Präsidentschaftswahlen stattfinden, bei denen Walesa wieder kandidieren wird. Mit Antisemitismus und den Polen als Nation hat das überhaupt nichts zu tun.

„Sollen die Juden vergessen, daß 90 Prozent der Opfer von Auschwitz Juden waren, um die Gefühle der Polen nicht zu verletzen?“ fragt die französische Tageszeitung Libération rhetorisch. Ja, es ist richtig, daß sich daran nur etwa 8 Prozent der Polen erinnern, während die Mehrheit überzeugt ist, in Auschwitz hätten vor allem Polen gelitten. Die Version von Auschwitz als eines „Symbols des Märtyrertums des polnischen Volkes und anderer Völker“ galt 45 Jahre lang. Polens Kommunisten brauchten sie als verbindenden Opfermythos mit der antikommunistischen Gesellschaft, die sie regieren wollten. Man muß nicht nach Auschwitz fahren, um die Überreste dieses Mythos auszugraben, man kann auch nach Babi Jar, ins Weißrussische Nationalmuseum in Minsk oder ins Baltikum fahren. Überall stehen die kommunistischen Denkmäler, in denen vom „Völkermord an Sowjetmenschen“ die Rede ist. Nur wenige dort wissen, daß es sich bei diesen „Sowjetmenschen“ fast nur um Juden handelte. Antisemitismus? Mag sein. Aber nicht polnischer, sondern kommunistischer. Die Deutschen, Franzosen, Israelis und Amerikaner haben 40 Jahre Zeit gehabt, sich darüber klar zu werden, was damals wirklich geschehen ist in Osteuropa. Die Polen (und die meisten anderen Osteuropäer auch) leben erst seit vier Jahren ohne Zensur. Wie sah das Bewußtsein über den Holocaust 1949 in Deutschland und Frankreich aus? War es deutscher Antisemitismus oder kommunistische Propaganda, wenn in DDR- Broschüren der gesamte Widerstand in Auschwitz kommunistischen Kriegsgefangenen der Roten Armee zugerechnet wurde?

So weit muß man gar nicht zurückgehen. Bis vor kurzem gab es in Israel noch Schulbücher, in denen polnische Polizisten den Holocaust organisierten. Und Leser der US-Presse erfahren in geradezu regelmäßigen Abständen von den grausigen Zuständen in den „polnischen Konzentrationslagern“ während des Zweiten Weltkrieges. Einen Tag vor den Feiern wurde so sogar Auschwitz in der New York Times zu einem „polnischen KZ“. Wer dagegen dieser Tage die RTL- Nachrichten einschaltete, erfuhr, daß beim Pogrom von Kielce 1946 „tausend Juden umkamen“ (tatsächlich waren es 42). Auch das sollte man wissen, bevor man sich darüber ausläßt, warum die Erklärung der polnischen Bischöfe im Vergleich zu jener der deutschen so lahm ausfiel. Die deutschen Bischöfe müssen sich nicht gegen falsche Verdächtigungen wehren. Ja, es hat eine „Entjudung von Auschwitz“ gegeben, wie Henryk M. Broder behauptet. Aber sie findet nicht jetzt statt, sie hat in den letzten vierzig Jahren stattgefunden, unter anderem übrigens mit deutscher Hilfe. Wer ein bißchen wühlt in den Buchläden des Museums Auschwitz, der findet ein kleines, deutschsprachiges, 1988 herausgegebenes Bändchen mit dem Titel „Ausgewählte Probleme des KZ Auschwitz“. Darin ein von einem polnischen Historiker verfaßter Aufsatz über das kämpfende Auschwitz, den Widerstand also. Der ist dort nur polnisch und kommunistisch, nicht einmal der Aufstand des jüdischen Sonderkommandos kommt vor. Herausgegeben ist der Band vom Museum Auschwitz und der „Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste“.

Es waren polnische Katholiken, die 1987 eine große Debatte über polnische Kollaboration während der deutschen Besatzung entfesselten, die im Grunde bis heute in der liberalen Presse andauert. Vierzig Jahre zensiertes Bewußtsein ändert man nicht in vier Jahren. Schlimm wäre es, würde man dies gar nicht erst versuchen. Aber dem ist ja nicht so: Kollaboration, Antisemitismus, Minderheitenfeindlichkeit sind Themen, seit es in Polen eine unabhängige Öffentlichkeit gibt. Ab und an bemerken das auch deutsche Medien, dann ist der nächste Artikel fällig zum Thema „polnische Tabus“, die schon längst keine mehr sind.

Die peinliche Debatte, die in Deutschland vor drei Jahren über die Frage entbrannte, was man mit den Forschungsergebnissen anfangen solle, denen zufolge nicht 4 Millionen, sondern etwa 1,5 Millionen Menschen in Auschwitz ermordet worden seien, hat in Polen so nie stattgefunden. Hier dachte niemand, daß die neuen Zahlen als Munition für Antisemiten dienen könnten. In Polen war der gegenteilige Effekt der Fall — zum ersten Mal wurde öffentlich klargestellt, daß sich der Mythos von Auschwitz als eines Symbols polnischen Leidens nicht mehr aufrechterhalten ließ, waren doch 90 Prozent der Opfer Juden gewesen. Und im Museum verschwand nicht nur die Aufschrift „Es waren vier Millionen“, es verschwand auch ein Großteil der irreführenden Statistiken. Klar, wer die alten Schmöker aus kommunistischer Zeit sucht, der findet sie. Aber an jedem Kiosk wird auch das Buch des Museumshistorikers Franciszek Piper verkauft „Wie viele Menschen starben im KZ Auschwitz“, das die wahren Zahlen auflistet — übersetzt in deutsch, englisch und französisch. Ein Teil der Ausstellung wurde nach diesen Gesichtspunkten umgebaut und korrigiert. Deshalb ist das Museum heute nicht „der letzte Schritt einer konsequenten Entjudung Polens“, wie Broder schreibt, sondern eher das Gegenteil davon. Davon abgesehen: Ich weiß wirklich nicht, ob die deutsche Presse der richtige Ort ist, den Polen Belehrungen über ihren Umgang mit den Juden zu erteilen. Mag sein, daß die Polen die Befreiung von Auschwitz nicht mit der Befreiung Polens gleichsetzen und für sie damals eine neue Besatzung begonnen hat. Mit dieser Ansicht sind sie so allein ja nicht. Mag sein, daß es ihnen schwerfällt, von ihrem Auschwitz-Mythos Abschied zu nehmen. Aber das ist ihr historisches Bewußtsein, und das müssen sie selbst entwickeln. Abnehmen kann ihnen das keiner. Zuallerletzt die Deutschen. Klaus Bachmann, Warschau