"Die Menschen sind bewußter als früher"

■ Pierre San, senegalesischer Politologe und seit 1992 Generalsekretär von amnesty international, über die Entwicklung der Menschenrechte in Afrika / Die Menschenrechtsbewegung wächst - die...

taz: Hat sich die Menschenrechtslage nach dem Ende des Kalten Krieges in Afrika verschlechtert, oder sind begangene Verbrechen nur sichtbarer geworden?

Sané: Vor allem in Südafrika ist die Zahl schwerer Menschenrechtsverletzungen deutlich zurückgegangen. In Ländern wie Kenia, Simbabwe, Sambia und Tansania, wo es demokratische Fortschritte gegeben hat und wo die Regierungen um ihr demokratisches Image sehr besorgt sind, stellen wir eine wachsende Kriminalisierung legitimer und politischer Menschenrechtsaktivitäten fest. Schlimme Gesetze werden dafür herangezogen, Oppositionelle krimineller Delikte anzuklagen, wobei die Stoßrichtung eine eindeutig politische ist.

Aber war das nicht immer so?

Nicht ganz. In Kenia beispielsweise hat die Regierung vor der Einführung des Mehrparteiensystems keine Notwendigkeit gesehen, ihre Maßnahmen gegen Oppositionelle zu rechtfertigen. Jetzt ist sie um ihr Erscheinungsbild besorgt und wehrt sich deshalb gegen ihre Gegner vor allem mit der Hilfe von Strafgesetzen. Es gibt in Afrika aber noch eine dritte Gruppe von Staaten. Dort herrscht etwas, was sich nur als Chaos beschreiben läßt, wie in Ruanda, Somalia und Liberia.

Was hat sich nach dem Ende des Kalten Krieges verändert?

Vorher hatten die meisten, die zu den Waffen gegriffen haben, dies unter dem Vorwand einer Ideologie getan. Der Kampf präsentierte sich als Konfrontation verschiedener Gesellschaftsmodelle. Die Kriegsfürsten in Liberia und Somalia aber haben kein Gesellschaftsmodell. Sie wollen sich einfach des Staates bemächtigen.

Welchen Einfluß hat diese Entwicklung auf die Arbeit von ai?

Mit dem Prozeß der demokratischen Öffnung hat die Aufklärung über Menschenrechte erhebliche Fortschritte gemacht. Die Menschen in Afrika sind sich heute sehr viel mehr als früher dessen bewußt, daß Menschenrechte nicht etwas sind, was ihnen von ihren Regierungen gegeben wird und auch wieder weggenommen werden kann, wenn sie sich „schlecht benehmen“. Die Menschenrechte gehören ihnen und stehen ihnen zu.

Hat das die Menschenrechtsbewegung gestärkt?

Es gibt in diesem Bereich noch große Defizite, aber sie wächst.

Was ist das größte Hindernis, das Menschenrechtsbewegungen zu überwinden haben?

Neben der allgemeinen Knappheit der Mittel ist es vor allem der hohe Grad der Politisierung. Es gibt viele ehrliche Menschenrechtsorganisationen in Afrika, aber auch einige, die im Grunde nur als Sammelbecken der Gegner der jeweiligen Regierung dienen.

Wenn Sie die Lage global betrachten – gibt es irgendeinen anderen Erdteil, wo die Menschenrechte in ähnlicher Weise bedroht sind wie in Afrika?

Es gibt politische Morde auch in Lateinamerika, Menschen verschwinden auch in Indonesien und Sri Lanka. Das besondere Problem Afrikas ist die Zerbrechlichkeit der Institutionen und der Zivilgesellschaften. Das ist der Grund, warum wir unsere Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Organisationen, mit NGOs, verstärkt haben, und gemeinsam wollen wir einen Aktionsplan erarbeiten.

Sind Sie da hoffnungsvoll?

Sehr. Ich habe hier in Kenia Vertreter von 20 lokalen NGOs getroffen, und deren Erfahrung und Professionalität wachsen. Das Bewußtsein hinsichtlich der Notwendigkeit des Kampfes für die Menschenrechte ist ohnehin die Wurzel für die Gründung all dieser Organisationen. Die Leute sitzen nicht einfach da und warten darauf, daß die internationale Gemeinschaft ihre Probleme löst. Sie organisieren sich, sie leisten Widerstand. Das ist überhaupt der Grund dafür, daß wir insgesamt eine steigende Zahl von Menschenrechtsverletzungen feststellen müssen – und daß Regierungen es für nötig halten, sich dabei immer ausgefeilterer Techniken zu bedienen. Interview: Bettina Gaus