Bayern international am Pranger

amnesty international erklärt den Fall Simsek als ersten deutschen Fall zur „Urgent Action“ – Kurde soll trotz drohender Folter und Selbstmordabsichten in die Türkei abgeschoben werden  ■ Von Bernd Siegler

Nürnberg (taz) – Zum erstenmal hat amnesty international (ai) einen Fall in Deutschland zu einer Eilaktion, einer „Urgent Action“ erklärt. Die Zentrale der Menschenrechtsorganisation in London stellt die bayerische Staatsregierung international an den Pranger, die auf der Abschiebung des in der Türkei von Folter bedrohten Kurden Fariz Simsek besteht. Sobald der Beschluß in seiner deutschen Übersetzung der Bonner ai- Zentrale vorliegt, soll die Eilaktion ausgerufen werden. Mindestens 5.000 Protestnoten werden per Fax, Brief und Telegramm an die Adresse des bayerischen Innenministers erwartet. Dort, am Münchner Odeonsplatz Nummer 3, gibt man sich davon gänzlich unbeeindruckt.

Vor seiner Flucht nach Deutschland war Simsek in der Türkei gefoltert worden. Seine vernarbten Verletzungen hatten ihm Amtsärzte des Freistaates Bayern attestiert. Trotzdem wurde Simseks Asylantrag als „unbegründet“ abgelehnt. Im bayerischen Innenministerium ließ man keinen Zweifel daran, Simsek möglichst schnell „in die Türkei zurückzuführen“. Er sei ein „Straftäter“ und falle deshalb nicht unter den Abschiebestopp. Das Innenministerium wirft ihm vor, im März letzten Jahres an den gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Polizei in Augsburg beteiligt gewesen zu sein.

Obwohl ein in gleicher Sache gegen Simsek laufendes Verfahren von der Augsburger Staatsanwaltschaft eingestellt worden war, visierte das Innenministerium die Abschiebung bereits für Dezember letzten Jahres an. „Ein Straftäter nach dem Sinne des Ausländergesetzes ist man nicht erst mit Vorliegen einer rechtskräftigen Verurteilung“, begründete Christoph Hillenbrand, Pressesprecher des bayerischen Innenministeriums, den weißblauen Alleingang. Es genüge ein „objektiver Tatbestand“, feststellbar etwa durch die Ausländerbehörde, um das Abschiebekriterium des „Straftäters“ als erfüllt zu betrachten, so die eigenwillige bayerische Definition. Außerdem sei das Strafverfahren nur „im Hinblick auf die bevorstehende Abschiebung eingestellt“ worden.

Der Termin im Dezember mußte ausgesetzt werden. Simsek hatte für sich, seine Frau und seine beiden Kinder einen Asylfolgeantrag gestellt. Der wurde jetzt erneut abgelehnt. Inzwischen blieb auch das Amtsgericht Augsburg nicht untätig. Dort erließ man am 13. Januar einen Strafbefehl mit einer einjährigen Freiheitsstrafe gegen Simsek. Obwohl der Strafbefehl erst am 26. Januar zur Zustellung gegeben worden war, hatte Innenminister Beckstein den in Abschiebehaft einsitzenden Kurden schon einen Tag zuvor während einer Landtagsdebatte als „Straftäter“ bezeichnet. Dies sei eine „Vorverurteilung“, entgegnete Simseks Rechtsanwalt darauf. Die grüne Landtagsabgeordnete Elisabeth Köhler unterstellt Beckstein nun, daß er sich „bei den Gerichten selbst um Ausstellung eines solchen Strafbefehls bemüht hat, um seine Vorverurteilung von Herrn Simsek als ,Straftäter‘ zu untermauern“.

Simsek ist suizidgefährdet. „Wenn er die deutsche Grenze überschritten haben wird, ist es höchst wahrscheinlich, daß er Hand an sein Leben legen wird, seine Frau wird dies ebenfalls nicht überleben“, urteilte die Münchner Psychotherapeutin Waltraut Wirtgen nach einem Gespräch mit Simseks Frau.

Mit der ai-Aktion soll Innenminister Beckstein erneut unter Druck gesetzt werden. In München reagiert man mit einer Flucht nach vorn. Sollte die Innenministerkonferenz aufgrund der Menschenrechtslage in der Türkei eine Verlängerung des Abschiebestopps über den 28. Februar hinaus beschließen, werde Bayern diesen Kurs nicht mittragen, kündigte Innenminister Günther Beckstein an. Schon jetzt betrachtet der bayerische Innenminister die Regelung nicht als „Abschiebestopp“. Es würden ja nur die „Ausreisefristen bis längstens 28. Februar verlängert“ – mehr nicht.