Abschiebungen in letzter Minute ausgesetzt

■ Bundesverfassungsgericht interveniert im Fall des Kurden Simsek / „Kaltschnäuzige“ Abschiebeversuche auch im SPD-regierten Niedersachsen

Nürnberg/Berlin (taz) – Die vom bayerischen Innenministerium forcierte Abschiebung des 29jährigen Kurden Fariz Simsek ist gestern wenige Minuten vor dem Abflug der Maschine nach Istanbul auf Bitten des Bundesverfassungsgerichts (BVG) vorläufig ausgesetzt worden. In einem Schreiben an Innenminister Beckstein bat Verfassungsrichter Simon, die Abschiebung zurückzustellen, um dem BVG „die Prüfung eines Eilantrags zu ermöglichen“. Im Innenministerium folgte man zähneknirschend dieser Bitte. Seit Monaten drängt Beckstein auf die Abschiebung Simseks. Er wirft ihm vor, an den Auseinandersetzungen zwischen Kurden und der Polizei im März letzten Jahres in Augsburg teilgenommen zu haben. Das Strafverfahren gegen ihn sei nur im Hinblick auf die geplante Abschiebung eingestellt worden, betont Beckstein. Zudem liege ein Strafbefehl über eine einjährige Freiheitsstrafe gegen den Kurden vor. Als „Straftäter“ falle er nicht unter den Abschiebestopp, sein Asylantrag sei abgelehnt.

Daß Simsek in der Türkei nachweislich gefoltert worden war, daß amnesty international Simsek als bislang ersten deutschen Fall zur urgent action (Eilaktion) erklärt hatte, beeindruckte bis gestern weder Behörden noch Gerichte. Nach der Aussetzung der Abschiebung hofft Simseks Anwalt jetzt auf den Petitionsausschuß im Landtag und das Hauptverfahren zum Asylfolgeantrag Simseks. Auch im SPD-regierten Niedersachsen konnten Flüchtlingsorganisationen nur mit knapper Not die Abschiebung zweier Kurden verhindern. Beide sollten trotz des bis zum 28. 2. geltenden Abeschiebestopps in die Türkei ausgeflogen werden. Zur Begründung hieß es, die zwei hätten eine Straftat begangen. Doch die einzige „Straftat“, die den abgelehnten Asylbewerbern vorgeworfen wird, ist, daß sie sich bisher ihrer Abschiebung entzogen haben.

Der 17jährige Ohan Ö. war im März 1994 „untergetaucht“, nachdem sein Asylantrag negativ beschieden worden war. Anders als heute galt an seinem damaligen Aufenthaltsort Baden-Württemberg noch kein Abschiebestopp. Jetzt agieren die niedersächsischen Behörden nach einer Logik paradox: Weil der Kurde sich vor Monaten unrechtmäßig einer Maßnahme entzog, vor der ihn jetzt ein rechtmäßiger Abschiebestopp schützen würde, soll der Abschiebeschutz für ihn nicht gelten. Letzten Freitag sollte er mit dem Segen des niedersächsischen Innenministeriums zwangsweise in die Türkei geflogen werden. Nur die Intervention von Flüchtlingsgruppen und ein Asylfolgeantrag konnten das Abschiebeverfahren stoppen. Ohan Ö. wurde vorerst aus der Abschiebehaft entlassen. Für den Niedersächsischen Flüchtlingsrat übertrifft dieser „kaltschnäuzige“ Abschiebeversuch durch vorherige Kriminalisierung selbst die Praxis des bayerischen Innenministers Beckstein. Bernd Siegler/Vera Gaserow