Archaischer Rest

Fotografien aus der Prä-MTV-Ära: Stephen Shores gewöhnliche Orte  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Plötzlich, für ein Wochenende, war Münster ein Zentrum jüngster Fotogeschichte. Während im Westfälischen Kunstverein die Ausstellung des amerikanischen Fotografen Stephen Shore eröffnete, ging in den Räumen des Landesmuseums gegenüber die überwältigende Ausstellung Bernd und Hilla Bechers, „Typologien“, zu Ende.

Die Ausstellung von Stephen Shore, die nach Münster in Hannover, Stuttgart und Berlin Station machen wird, kommt überraschend. Der Fotograf, Jahrgang 1947, war in den siebziger Jahren gewiß „ein Name“; er stand für eine stille, konzentrierte Betrachtung des anonymen, kleinstädtischen Amerika, dem er ein paar haltbare Ikonen abgewonnen hat. Es war wohl ironisch gemeint, wenn Shore seine Ansichten austauschbarer Nebenschauplätze 1982 als „Uncommon Places“ in einem Buch zusammenbrachte. Am genauesten ist Stephen Shore gerade im Unspektakulären: ein diagonaler Blick auf eine Straßeneinmündung, nicht glasierte Suburbia, nicht Dorf, nicht Landstraße, sondern dieses grünlich wuchernde Irgendwo mit einem Allerweltseinfamilienhaus an der Straßenecke. Dieses Amerika, in dem niemand zu Fuß geht, nicht einmal der Fotograf. Der Standpunkt ist suggestiv auf Augenhöhe des Autofahrers ausgelegt, was dann auch die Automobile zu den zentralen Objekten des Bildes macht: eine weiße amerikanische Limousine mit ihrem umständlichen Ausdruck von Luxus, und eine japanische Hitsche, deren Rot schulbuchmäßig in das Grün und Grau der gesamten Ansicht montiert ist. Wir schreiben das Jahr 1976, Amerika nach Vietnam: glanzlos.

Kein Kinofilm, auch nicht einer von Robert Altman oder von Robert Kramer, leistet sich diese Tristesse – ohne sie auszudeuten. Im Film wäre dies die Kulisse für „Einsamkeit“ oder der zukünftige Ort eines „ungeheuerlichen Verbrechens“. Nähert sich aber Shore tatsächlich der bildnerischen Mythologie des Kinos, verliert er mit zunehmender Beschaulichkeit an Präzision: das Bild vom Kleinstadtkino in Wisconsin zum Beispiel, in dem dann schon wieder Geschichten von Jugendsehnsucht angesprochen sind, die der Fotograf mit seinen Mitteln nicht forterzählen kann. Das Mischlicht erinnert an Hopper, aber die Ordnung der Figuren auf der „Main Street“ oder „First Avenue“ ist dann eben doch zu dicht am Zufall. Dokumentarisch allerdings bleibt auch dieses Bild vom süßlichen Fassadenamerika interessant: Diese herrlich gestreckten Limousinen, die nicht mehr richtig nostalgisch sind, aber technologisch schon überholt. Diese Ruhe um einen öffentlichen Ort, prä-MTV. Das Land der industriellen Landschaft vor der Erfindung des Halogenlichts.

Vielleicht wäre ein simpler Rückgriff auf die „Uncommon Places“ in ihrer Vollständigkeit das sicherste Konzept einer guten Ausstellung gewesen. Die weiteren sechs Serien, von den frühen Achtzigern bis neulich, zeigen doch in aller Deutlichkeit, wie Shore sein Sujet entglitten ist: die Verschränkung von Industrie und Natur, die geometrische Ordnung der Weite des Hinterlandes – aus der Sicht des Ankömmlings, der Shore insofern war, als er in New York City aufgewachsen ist. Während die Serien nun Ortsnamen bekommen („Scotland“), verlieren die Fotografien an Orts-Sinn: Der Himmel über Texas ist dann eben kodakblau.

Der Leiter des Westfälischen Kunstvereins, Heinz Liesbrock, sieht in Shore ein Vorbild ausgerechnet für jene Generation deutscher Künstler/Fotografen, die als Schüler und Schülerinnen von Bernd und Hilla Becher ihren Weg gemacht haben. Wie um die Verbindung leibhaftig zu belegen, waren die Bechers zur Eröffnung aus Düsseldorf gekommen. Liesbrock hat im Katalogbuch als einen von fünf Beiträgen ein Gespräch mit den großen Dokumentaristen plaziert, in dem sie bestätigen, an der Akademie auch Fotos von Shore gezeigt zu haben.

Nun ist die Frage, wer erfolgreiche Becherschüler wie Thomas Ruff oder Andreas Gursky eigentlich wirklich „beeinflußt“ hat, reichlich akademisch. Dennoch gibt der Vergleich des enzyklopädischen Werks der Bechers und des atmosphärischen Ansatzes bei Shore einen entscheidenden Hinweis auf die Abwesenden. Die Bechers ordnen ihre schwarzweißen Bilder nämlich zu Tableaus, die mit der visuellen Macht gemalter Bilder daherkommen: Ihre Ausstellung ist vollgültig „Museum“, überhaupt nicht „Kupferstichkabinett“. Shore, mit seiner Farbe von höchster Intensität (tatsächlich ist sein Negativmaterial so groß wie die Bilder, die er zeigt), bleibt im strengen Sinn der Kamerafotograf. Auf seinen Bildern sieht man am meisten, wenn die Nase vom Glas nur noch eine Zigarettenlänge entfernt ist.

Wenn Gursky und Ruff dann mit einzelnen Bildern auf größere Formate gehen, müssen sie zuvor ein Problem der Farbfotografie gelöst haben: die Eigenart von Farben, das Bild seiner metaphorischen Qualität zu berauben. In der äußersten Beschränkung des Sujets liegt der konzeptuelle Schlüssel, der die großen Fotos museumskompatibel macht: Ruff bleibt mit seinen Köpfen in einer völlig stereotypen Studiosituation, Gursky reist um die ganze Welt, um immer wieder eine ähnliche Konstellation des Aufblicks zu finden. Bei Cindy Sherman ist, in der gleichen Zeit, der Wechsel vom „kamerafotografischen“ Schwarzweißbild zu einem „museumskompatiblen“ Farbbild exemplarisch nachweisbar. Die entscheidende Frage für die Farbfotografen mit Museumsambitionen ist dann die Ausbaufähigkeit des Sujets: Ruff wechselt, Gursky hält fest, und Sherman versucht begreiflicherweise, sich als Darstellerin aus dem Projekt irgendwann herauszunehmen.

In John Szarkowkis Resümee, „Photography Until Now“ (1989), findet Shore (den er im MoMA ausstellte) keine Erwähnung mehr. Die Bechers preisen ihn dagegen als jemanden, „der wirklich so intensiv“ gearbeitet habe, „wie Atget das in Paris getan hat“, eine höfliche Übertreibung. Die Rolle ist William Eggleston zugefallen – einem Kleinbildfotografen, der auf Masse macht. Gerade, was die Fotografie so verdächtig macht, ist eben auch ihre Stärke.

Stephen Shore: Fotografien 1973 bis 1993. Westfälischer Kunstverein, Münster, bis zum 19. März 1995. Sorgfältig gemachtes Katalogbuch mit Reproduktionen 1:1, 45 DM, für den Buchhandel bei Schirmer/Mosel 78 DM.