Ziviler Ungehorsam

■ betr.: „Wie man einen Skandal in szeniert“ (Ermittlungsverfahren gegen Abschiebeknastentzäuner waren gewollt), taz vom 26. 1. 95

Die taz beziehungsweise Klaus- Peter Klingelschmitt hat von den Prinzipien und politischen Wirkungsweisen des zivilen Ungehorsams offensichtlich keinerlei Ahnung. [...]

Jede Aktion zivilen Ungehorsams bedeutet eine Provokation der staatlichen Rechtsorgane, da die Akteure durch Übertretung eines Gesetzes oder einer Vorschrift auf einen formalrechtlich legitimierten Unrechtszustand aufmerksam machen wollen, um diesen politisch zu verändern. Ziviler Ungehorsam sucht die rechtliche Auseinandersetzung mit dem Staat solange, bis der Unrechtszustand verändert ist und das Handeln der Ungehorsamen gerechtfertigt wird. Ob die staatliche Verfolgung dabei aufgrund der Aktion selbst, des Aufrufes dazu, durch eigenständiges Tätigwerden der Behörden, durch Selbst- und Fremdanzeigen ausgelöst wird, ist dabei von geringer Bedeutung, auch wenn es Ziel jeder solchen Aktion ist, möglichst durch die Aktion selbst die Provokation auszulösen. Daß trotz gewollter Provokation die Verfolgung durch den Staat ein „Skandal“ bleibt, liegt darin begründet, daß der Staat die Begründung für den zivilen Ungehorsam (noch) nicht anerkennt.

Die Staatsanwaltschaft hätte sehr wohl erkennen können, daß im inkriminierten Aufruf Rechtfertigungsgründe aus den Grund- und Menschenrechten vorgetragen werden, die das geplante Entzäunen der Abschiebehaftanstalt legitimieren. Die Staatsanwaltschaft hätte also sagen können, wir erkennen in diesem Tun keine Straftat und werden deshalb keine Verfolgungsmaßnahmen einleiten. Daß sie dennoch Verfolgungsmaßnahmen einleitet, bedeutet, daß sie den Zaun eines Abschiebeknastes für schützenswerter hält als die von uns verteidigten Grund- und Menschenrechte. Das ist der Skandal!

Deshalb sind nun die Richter und ihr Gewissen gefragt. Wenn diese uns verurteilen, ist auch das wiederum ein Skandal, auch wenn die taz dann wieder lacht und sagt: das habt Ihr doch gewollt. [...]

Veränderung der Asylpraxis, Abschaffung der Abschiebehaft. Wir suchen nicht die Verurteilung, sondern den Freispruch und die Veränderung des Unrechts. Mutige Richter, auf die wir nun hoffen, könnten sagen: Gut gehandelt, BürgerInnen. Der Staat ist mit der Abschiebehaft im Unrecht. Diese verstößt gegen die Grundrechte auf Asyl, Menschenwürde, Freizügigkeit, Unversehrtheit, Schutz von Ehe und Familie, sie verstößt gegen internationale Übereinkommen wie die UN-Konvention zum Schutz vor Folter und erniedrigender Behandlung usw. Euer Gewissen hat das Richtige geboten; deshalb: Freispruch; deshalb muß der Staat die Abschiebeknäste wieder abschaffen. [...] Martin Singe, Komitee

für Grundrechte, Bonn