■ Wann Auschwitz wirklich anfing
: Genau hinsehen, nie vergessen

Die Diskussion war leiden- schaftlich im Wortsinn. Sie muß es bleiben. Das Crimen maximum der Verbrechensgeschichte dieser Welt: der Staat als Verbrecherorganisation. Der Staat, seine SS-Soldaten, seine Verkehrsbetriebe, die ihm nahestehenden Großfirmen als OK, als Organisierte Kriminalität. Der Nazistaat war nicht „verbrecherisch“ wie mancher vom Wege abgekommener Staatsbedienstete, er war die Verbrecherorganisation selbst. Wir haben das Ende des Lagers vor Augen gehabt am 27. Januar 1995. In den Gesichtern der Überlebenden die Bilder der Ermordeten.

Immer wieder werden wir ermahnt. Auschwitz durch den Vergleich mit anderen Verbrechen nicht zu relativieren. Und es wird noch einmal hervorgehoben, was seit fünfzig Jahren ohne jeden Zweifel festgehämmert war auf den Texttafeln der Weltgeschichte des Terrors: Auschwitz war einzigartig. Auschwitz (und alle anderen Vernichtungslager des deutschen Verbrecherstaates) darf niemand relativieren. Aber keiner darf umgekehrt die Opfer von Auschwitz dazu benutzen, andere Verbrechen zu relativieren. Das ist eine zutiefst ethische Frage, mit der wir vielleicht in den letzten fünfzig Jahren oft allzu leicht umgegangen sind.

1. Es gibt eine merkwürdige Verkehrung im öffentlichen Bewußtsein: Während des Krieges waren die Ortsnamen Auschwitz, Treblinka, Maidanek in der Tat nur wenigen Deutschen bekannt. Heute sind diese End- und Mordstationen zu säkularen Mahnworten geworden. Und umgekehrt droht alles, was als schändliche alltägliche Aussonderung seit 1933 jedem Deutschen klar war (und nicht erst mit der Pogromnacht und den gelben Sternen auf der Jacke anfing), dem Bewußtsein der Welt zu entschwinden.

Auschwitz als Staatsverbrechen hat 1933 angefangen. Überall. Und alle Deutschen haben es gewußt: Am 11. April, als die Stadtverwaltung von Köln anordnete, daß Rechnungen jüdischer Ärzte nicht mehr vergütet werden dürften.

Am 8. April, als in ganz Baden alle jüdischen Dozenten und Assistenten aus den Hochschulen hinausgeworfen wurden.

Das Staatsverbrechen hat angefangen am 7. April, als alle Beamte „nichtarischer“ Abstammung aus dem Beamtenverhältnis entlassen.

Am 22. April, als die Reichspost feststellte, daß beim Buchstabieren keine jüdischen Namen mehr benutzt werden durften. Niemand dürfe am Telefon mehr für „R“ Rahel, wohl aber Renate sagen.

Am 8. Mai wußten alle Jahrmarktanbieter in Zweibrücken, daß es fortan Juden untersagt war, einen Stand auf dem Markt aufzuschlagen.

Am 23. Juli 1933 wurde allen jüdischen Jugendvereinen die Fahrpreisermäßigung entzogen, wenn sie auf Wanderfahrten wollten.

Es gab kaum einen Winkel Deutschlands, kaum eine Ecke der deutschen Gesellschaft, die nicht in irgendeiner Weise beteiligt war oder beteiligt wurde an der Aussonderung der jüdischen Deutschen aus dem öffentlichen Leben Deutschlands.

Die Rampe zum Aussondern wurde 1933 aufgestellt. Bis 1945 gab es über 2.000 Verfügungen und Verordnungen, Gesetze und Erlasse, mit denen das Sonder-Unrecht der „Herrenrasse“ gegen die „Unterrasse“ organisiert wurde.

Der Marsch in die Vernichtungslager begann mit dem Aussondern und Ausrauben der jüdischen Deutschen, vor den Augen aller, mit Wissen aller. Die Entfernung aus der Gesellschaft war gepaart mit ihrer direkten und indirekten Beraubung durch Nutznießer. Zu Recht hat der amerikanische Anwalt Kempner die Vernichtung in Auschwitz den „größten Raubmord der Geschichte“ genannt.

Dieser Raub hatte seit 1933 stattgefunden und viele Deutsche, die sich nach 1945 über Auschwitz entsetzten, hatten ihren Vorteil genutzt: Der Vizedirektor, der jetzt nachrücken konnte, weil sein jüdischer Vorgesetzter entlassen worden war, der Assistent an der Uni, der jetzt weniger Konkurrenten bei der Karriere hatte, später der Kaufmann, auch der „arische“ Prokurist, der sich reich „arisierte“, der Grundstücksspekulant, der jetzt nicht mehr auf den Markt, sondern auf den Ausreisedruck spekulierte. Die deutschen Oberbeamten in Berlin, denen per Verordnung gestattet wurde, ehedem jüdische Wohnungen zu beziehen, der Krämer an der Ecke, der sich freute, wenn dem Konkurrenten gegenüber die Kundschaft wegblieb, der Steuerberater, der die Mandanten seiner jüdischen Kollegen übernahm, als „Nicht- Ariern“ verboten wurde, „arische“ Mandanten zu betreuen.

Die Existenzvernichtung war staatlich organisiert und wurde rechtlich abgesichert. Was all das aber zum Auschwitz-Vorkapitel machte, war die massenhafte Akzeptanz und die totale Öffentlichkeit dieser Aussonderung.

Niemals darf das Gedenken an die Endstufe des Verbrechens die Vorstufen relativieren. Auschwitz, davon wußten wenige. Das verbrecherische Vor-Auschwitz kannten alle. (Bis heute ist eine Geschichte der „Arisierung“, in der Namen und Adressen genannt werden, nicht geschrieben.)

2. Auschwitz führte zum Nürnberger Prozeß. Der führte zur UNO-Konvention gegen Völkermord. Immer wieder bin ich in den letzten zwanzig Jahren ermahnt worden, doch bitte andere staatliche Verbrechen nicht mit Auschwitz gleichzusetzen. Niemand, der vergleicht, setzt gleich. Im Gegenteil, erst der Vergleich ermöglicht die präzise Deutung der Unterschiede. Aber dürfen wir wirklich die Opfer von Auschwitz dazu benutzen, um sie gegen die Millionen Toten anderer Genozide ins Feld zu führen?

Darf Auschwitz uns Nachgeborenen dazu dienen, die Verbrechen von heute graduell „milder“ zu beurteilen? Der Massenmord an den innenpolitischen Gegnern in Kambodscha in den Siebzigern, die Vernichtung der Indio-Dörfer in Nordguatemala Anfang der achtziger Jahre durch das staatliche Militär? Die gezielten Militäraktionen der türkischen Regierung gegen Dörfer der Kurden in Ostanatolien? Die Aussonderung der Moslems aus den serbisch besetzten Gebieten Bosniens? Der Völkermord in Ruanda? Die öffentliche Denunzierung aller „Kaukasier“ als Verbrecher in Jelzins Rußland?

Nein. Die Überlebenden von Auschwitz geben uns einen Auftrag: genau hinsehen. Und nie vergessen: Auschwitz war das fast geheime Ende eines 1933 begonnenen öffentlichen Staatsverbrechens, an dem unsere Eltern und Großeltern durch Wegsehen und Nutznießen teilhatten.

Auch in den neunziger Jahren drohen Staatsverbrechen der „legalisierten“ Aussonderung. Nie wieder Auschwitz! Das meint nicht nur die Todeslager. Der Terror fängt ganz anders an. Freimut Duve

Mitglied von SPD und Auswärtigem Ausschuß des Bundestages