Chile im Nafta-Fieber

■ Bei der geplanten Süderweiterung der amerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft soll Chile den Anfang machen / Skepsis bei Gewerkschaften und Landwirten

Berlin (taz) – Auf dem Gipfel der amerikanischen Staatschefs im vergangenen Dezember in Miami wurde endlich amtlich, worauf die Chilenen so lange gewartet hatten: Die Nordamerikanische Wirtschaftsgemeinschaft Nafta wird in Kürze Beitrittsverhandlungen mit Chile aufnehmen. Damit hat das Land, das sich selber mit wachsender Begeisterung als „Tiger“ Südamerikas betrachtet, endlich die internationale Anerkennung erhalten, von der es seit Jahren träumt.

Das ökonomische Musterland des Kontinents, das sich in den vergangenen Jahren durch wirtschaftliche Stabilität und steigende Wachstumsraten hervorgetan hatte, soll nach dem Willen der Präsidenten der bisherigen Nafta- Mitgliedsstaaten USA, Kanada und Mexiko die bis zum Jahre 2005 geplante Süderweiterung der Freihandelszone einleiten. Die Verhandlungen mit Chile sollen Mitte 1996 abgeschlossen sein.

Die volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Chile sind in der Tat ermutigend. Die Wirtschaft wuchs 1994 um 4,3 Prozent, wobei die Industrieproduktion allerdings nur um 1,7 Prozent zunahm. Der Weltmarktpreis für Kupfer, nach wie vor das wichtigste Exportprodukt, zeigt steigende Tendenz, so daß vorläufig ein Handelsbilanzüberschuß von rund 700 Millionen US-Dollar für 1994 errechnet wurde. Die Inflation, die viele lateinamerikanische Länder plagt, liegt auf das ganze Jahr gerechnet unter neun Prozent, und die Arbeitslosenrate ist gegenüber dem Vorjahr nur mäßig auf 6,7 Prozent angestiegen.

Die Regierung und die Geschäftswelt sind von den Signalen aus Miami hellauf begeistert. Präsident Eduardo Frei sprach von einem „historischen und entscheidenden Augenblick“. Vor einigen Wochen erst war der Beitritt zur pazifischen Handelsgemeinschaft Apec unter Dach und Fach gebracht worden, wodurch sich Chile eine Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen zu Japan und den sogenannten Tiger-Staaten Südostasiens erhofft. Nun stehen auch die Türen zu den traditionellen Handelspartnern im Norden weiter offen denn je. In der Vergangenheit wickelte Chile immerhin 18 Prozent der Exporte und 23 Prozent der Importe mit den USA ab.

Vom Nafta-Beitritt erhofft sich Chile einen deutlichen Anstieg der Investitionen aus dem Ausland sowie des Warenaustauschs mit den Partnerstaaten im Norden. Die Regierung stützt sich auf die Erfahrungen der bisherigen drei Nafta-Staaten, wenn sie bereits in den ersten Monaten nach dem Beitritt Steigerungen von 20 bis 25 Prozent erwartet.

Ob sich die in den USA beobachtete positive Auswirkung auf den Arbeitsmarkt, wo seit Anfang des Jahres 130.000 Stellen neu geschaffen wurden, auf Chile übertragen läßt, ist allerdings eher zweifelhaft. Die Gewerkschaftszentrale CUT befürchtet für Chile sogar eine gegenteilige Wirkung. Ihr Vizepräsident Arturo Martinez geht davon aus, daß in den ersten beiden Jahren nach dem Beitritt annähernd 10.000 Arbeitsplätze verlorengehen, vergleichbar der sich in Mexiko abzeichnenden Entwicklung.

Vor allem bekämpft die CUT das chilenische Arbeitsgesetz – das vielen, die auf ausländische Investoren hoffen, gerade als Garant für die Zunahme von Jobs erscheint. Fünf Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur sind nämlich weiterhin wichtige Passagen des „plan laboral“ von Diktator Pinochet in Kraft, der unter anderem kaum Kündigungsschutz bietet und keine Tarifverhandlungen auf überbetrieblicher Ebene zuläßt.

Seit Monaten schwelt in dieser Frage ein Konflikt zwischen der christdemokratisch dominierten Frei-Regierung und der CUT mit ihrem ebenfalls christdemokratischen Vorsitzenden Manuel Bustos. Die traumatischen Erfahrungen mit der großen Weltmarktöffnung Anfang der 80er Jahre unter Pinochet sind für den Gewerkschaftler und viele seiner Kollegen noch allzu gut in Erinnerung, als daß die Gewerkschaftsbewegung nun den Nafta-Beitritt begrüßen könnte. Damals brachen ganze Industriezweige zusammen, die Arbeitslosigkeit schnellte auf über 30 Prozent in die Höhe.

Widerstand gegen die Öffnung des chilenischen Marktes gegenüber den Produkten aus dem Norden kommt aus einer anderen Ecke. Die chilenischen Landwirte, die in den vergangenen Jahren von der vielgerühmten Diversifizierung der chilenischen Wirtschaft profitiert hatten, sehen ihre inländischen Absatzmärkte durch Billigprodukte vor allem aus Mexiko in Gefahr. Gerade die mittleren und kleinen Produzenten im Süden des Landes fühlen sich bedroht und drohen mit Streik.

Die Regierung hat bisher wenig diplomatisches Geschick im Umgang mit den gesellschaftlichen Gruppen gezeigt, die Widerstand gegen ihre ausschließlich marktorientierte Politik leisten. Mit der politischen Stabilisierung treten nun die sozialen Folgen der nach wie vor extrem ungerechten Einkommensverteilung immer offener zutage. Durch die anstehenden Beitrittsverhandlungen zur Nafta könnte die Regierung nun mit unliebsamen Konflikten konfrontiert werden. Jens Holst