Besuche nur nach Voranmeldung

Per Gesetz und umfassender Öffentlichkeitsarbeit soll die Antarktis vor den Touristen geschützt werden. Die Hauptsaison ist gleichzeitig die wichtigste Jahreszeit für Flora und Fauna  ■ Von Hans Gerd Knoop

Faszinierende Schönheit, einzigartige Tierwelt – die Antarktis gilt als einer der letzten intakten Flecken der Erde. Gerade deshalb ist sie auch begehrtes Reiseziel. Immer mehr Menschen besuchen während der südlichen Sommermonate November bis Februar den „weißen Kontinent“, um dem Alltagsstreß und grauen, neblig-blassen Winter der Nordhalbkugel zu entfliehen. Während des Südsommers nehmen etwa dreizehn Schiffe bis zu zehnmal vom chilenischen Punta Arenas oder vom argentinischen Ushuaia aus Kurs auf die antarktische Halbinsel, vorbei am Kap Hoorn und durch die berüchtigte Drake Passage. Oder starten auf der anderen, der pazifischen Seite des etwa 13 Millionen Quadratkilometer großen Kontinents von neuseeländischen und australischen Häfen ihre Reise in das südpolare Ross-Meer.

Insgesamt um die 8.000 vorwiegend US-amerikanische und europäische Gäste gönnen sich dieses außergewöhnliche Urlaubserlebnis, umsorgt und betreut von zusammen knapp 900 Crew-Mitgliedern und Reisebegleitern. Damit überflügeln die touristischen Besucher zahlenmäßig die sommers vielleicht 4.500köpfige Gemeinde der Polarforscher und deren Troß. Auch diese, wissenschaftlich motivierten Antarktisbesucher nutzen die Tatsache, daß jetzt Teile des Polarmeeres schiffbar sind, um die sonst durch einen undurchdringlichen, 1.000 Kilometer breiten Eisgürtel nahezu unzugänglichen Forschungsstationen aufzusuchen.

Ziele der Kreuzfahrer hingegen sind in erster Linie die Kolonien der Pinguine, der Robben und der gefiederten Gäste Antarktikas auf den wenigen, nur jetzt schnee- und eisfreien Flächen am Rande der polaren Eiswüste. Im Bereich der antarktischen Halbinsel sind dies etwa fünfzig Landeplätze, die regelmäßig auf den Fahrplänen der Passagierschiffe stehen.

An diesen Anlegestellen kann man unter anderem die Brut und die Aufzucht der Adélie-, Esels- und Zügelpinguine aus allernächster Nähe beobachten. Zu Beginn der kurzen Saison, im November, beginnen die Pinguinmännchen und -weibchen hier abwechselnd etwa 40 Tage lang ihre Eier auszubrüten. Nach dem Schlüpfen werden die Küken drei bis sechs Wochen umschichtig von den Elterntieren in ihren Nestern gewärmt, gefüttert und beschützt, dann schließen sich einige Wochen in beaufsichtigten Kindergärten (creches) an. Die Eltern haben nun die Möglichkeit auf Futtersuche zu gehen. Der gierige Hunger des Nachwuchses ist nur berechtigt, denn spätestens zum Ausklang der Sommermonate müssen sich aus den Küken (über-)lebensfähige Jungtiere gemausert haben, die in ihrem Element, dem Polarmeer, auf sich gestellt sind.

Die Elterntiere nutzen Trampelpfade, die wie ein Adernetz den Strand mit der Kolonie verbinden, um nach anstrengender Jagd im Meer mit gefülltem Magen auf kürzestem Wege zu den Nestern zu gelangen. Werden sie dabei behindert, etwa wenn Schlauchbootanlandungen dort erfolgen, wo auch die Pinguine anlanden, wird die Fütterung der Küken verhindert oder fällt ganz aus. Das können sich die Tiere nicht leisten, denn das ständige Kommen und Gehen geschieht nach einem streng eingehaltenen Tagesgang, der nicht gestört werden darf.

Gestört werden die Tiere auch, wenn mehrmals täglich ungebetener Besuch aufkreuzt oder zahlenmäßig große und damit unübersichtliche Gruppen in die Tierkolonien „einfallen“, wenn See-Elefanten und Pelzrobben aus ihren Ruhepositionen der Foto- und Videoaufnahmen wegen aufgeschreckt werden oder wenn womöglich die wenigen lokalen Flechten und Moosflächen durch Fußgänger oder Fahrzeuge zerstört werden. Die Hauptsaison der menschlichen Eindringlinge ist gleichzeitig die Hauptsaison der empfindlichen Fauna und Flora. Ein umumweltgerechtes Verhalten aller Besucher des sechsten Kontinents ist daher absolut nötig.

Um dieser Forderung zu entsprechen, hat die Bundesregierung im September 94 das „Gesetz zur Ausführung des Umweltschutzprotokolls vom 4. Oktober 1991 zum Antarktis-Vertrag“ verabschiedet. Dieses Gesetz unterstellt alle von Deutschland ausgehenden Antarktisaktivitäten einer Umweltverträglichkeitsprüfungs- und Genehmigungspflicht und beauftragt als federführende Behörde das Berliner Umweltbundesamt (UBA) mit der Durchführung. Grundlage des Gesetzes bildet, neben dem Antarktis-Vertrag von 1959 und einschlägigen internationalen Schutzabkommen, das 1991 auch von Deutschland gezeichnete Madrider Umweltschutzprotokoll. Dieses Protokoll verpflichtet die derzeit 42 Antarktis-Vertragsparteien zum „umfassenden Schutz der antarktischen Umwelt sowie der abhängigen und verbundenen Ökosysteme“. Die Antarktis „ein dem Frieden und der Wissenschaft gewidmetes Naturreservat“.

Kern des Ausführungsgesetzes ist die Anwendung des Vorsorgeprinzips: die vorsorgliche Schadensvermeidung soll an die Stelle von nachträglicher – und nur zu oft vergeblicher – Schadensbegrenzung treten. Genehmigt werden darf nur, was keine „nachteiligen Wirkungen“, „erheblichen“ oder „schädlichen Veränderungen“, „Schädigung“ oder „erhebliche Gefährdung“ auf die antarktische Umwelt besorgen läßt. Auflagen zur Verhütung der Meeresverschmutzung, zur Erhaltung der Tier- und Pflanzenwelt, Vorschriften zur Behandlung von Abfällen, zum Schutz der wissenschaftlichen Forschung und besonderer Gebiete, ein Bergbauverbot, Regelungen zur Schulung der Besucher und zur Inspektionstätigkeit vervollständigen das Gesetz. Verstöße können mit Bußgeldern, strafrechtlicher Verfolgung und bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug geahndet werden.

Unmittelbar nach Verabschiedung des Ausführungsgesetzes hat die Bremerhavener Oekomar-Polarmar Consulting im Oktober 94 ein Informationstreffen organisiert, um das zukünftige Vorgehen bei Planung und Durchführung von Reisen zum „weißen Kontinent“ zu klären. Teilnehmer waren neben Vertretern fast aller Reedereien, die Antarktisreisen anbieten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, des Bundesamtes für Seeschiffahrt und Hydrographie und des Bundesamtes für Naturschutz. Außerdem anwesend: Abgesandte des gastgebenden Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung und des Instituts für Polarökologie und des Umweltbundesamts. Zusammen mit Repräsentanten des Council for Managers of National Antarctic Programs (COMNAP) und des Scott Polar Research Institute in Cambridge, vom World Wide Fund for Nature (WWF) und der International Association of Antarctica Tour Operators (IAATO) hatte sich ein sachkundiger Kreis in Bremerhaven eingefunden.

Eine zentrale Frage während des Treffens war: Wie die gesetzlichen Auflagen in die Praxis umsetzen? „Zunächst einmal werden sämtliche Tätigkeiten, die von hier aus organisiert werden, genehmigungspflichtig. Ähnlich sieht es bei den wissenschaftlichen Tätigkeiten aus, die anzeigepflichtig werden“, erläutert Professor Thomas Bunge, Leiter des Fachbereichs Umweltverträglichkeitsprüfung im UBA. Seine Experten müssen prüfen, welche Auswirkungen zu erwarten sind: „Wenn die zu erwartenden Auswirkungen eine ,Erheblichkeitsschwelle‘ überschreiten, muß eine Umweltverträglichkeitsprüfung stattfinden. Die sieht so aus, daß der Träger der Aktivität zunächst eine Untersuchung über die voraussichtlichen Umweltauswirkungen vorlegen muß. Diese wird der Öffentlichkeit bekanntgegeben. Andere Behörden, andere Antarktis-Vertragsstaaten und der Umweltschutz- Ausschuß nach dem Umweltschutzprotokoll werden beteiligt, und im Anschluß daran prüfen wir noch mal, was an Umweltauswirkungen zu erwarten ist. Danach wird entschieden.“

Offen bleibt: Wie diese „Erheblichkeitsschwelle“ definieren? Wann liegen „erhebliche Beeinträchtigungen“ vor, wann stellen sich „erheblich nachteilige“ Wirkungen ein? Wie können im Vorwege „schädliche Veränderungen“ – und als solche müssen sie erst einmal erkannt werden – vermieden werden? Auf nationaler und internationaler Ebene arbeiten Experten daran, Antworten beispielsweise darauf zu finden, wie viele menschliche Eindringlinge und welche Besuchshäufigkeit das sensible antarktische Ökosystem unbeschadet verträgt oder ob es nur „geringfügig“ oder „vorübergehenden“ Schaden nimmt. International unterschiedliche Umweltstandards, wie sie auch unter den Antarktis-Vertragsstaaten existieren, setzen Fragen nach der Eignung der eingesetzten Schiffe, nach der Qualifikation der Schiffsführung und der Befähigung der Reisebegleiter, aber auch zum Beispiel nach der Ausstattung der Forschungsstationen mit umweltverträglichen Ver- und Entsorgungseinrichtungen auf die Tagesordnung. Neben der Bundesrepublik haben bereits verschiedene andere Staaten nationale Ausführungsgesetze zum „Madrider Protokoll“ verabschiedet. Zusätzlich haben die Vertragsstaaten auf ihrer letzten Konferenz einen „Leitfaden für Besucher der Antarktis“ herausgegeben, der sich insbesondere an die nichtwissenschaftlich motivierten Gäste und die Reiseveranstalter wendet. Die in der Vereinigung internationaler Antarktis-Reiseveranstalter IAATO organisierten Tourismusunternehmen (deutsche Mitglieder sind Hanseatic Tours, Society Expeditions; plantours bemüht sich um Aufnahme) verteilen an ihre Passagiere vor Antritt der Reise einschlägige Verhaltensrichtlinen.

Wenn auch noch viele Fragen zu klären sind: die Erfahrungen zeigen, daß diejenigen Besucher, denen vor und während des Aufenthalts im „Naturreservat Antarktis“ umfassende Umweltinformationen geboten werden, sicherlich die besten Advokaten für den Schutz dieses Ökosystems sind.

Der Autor hat als Ingenieur-Consultant, Lektor und Reisebegleiter mehrere Reisen in die Antarktis unternommen