Schauplätze der Schande

Alles Unrecht unter der Sonne. Zur Premiere von Bernd Alois Zimmermanns Oper nach Lenz' „Die Soldaten“ in der Semperoper in Dresden  ■ Von Sabine Zurmühl

Ein schmaler Guckkasten mit flüchtigen Bleistiftstrichen an den Wänden, darin weiße Menschen, stehend, abgewandt, stumm. Pompeji- Schatten oder KZ-Häftlinge. Wenn sie sich regen, sich uns zuwenden, beginnt zu den Zwölfton- Klängen Bernd Alois Zimmermanns der Abend, mit dem die Semperoper an das Bombardement Dresdens in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar erinnert.

Mit der Inszenierung der „Soldaten“, die in ihrem Entstehungsjahr 1960 noch als unspielbar abgesetzt wurden, ist in Dresden ein verstörend guter Abend gelungen.

Die Geschichte des Bürgermädchens Marie, vom Soldaten verführt und fallengelassen, von den Eltern in der Hoffnung auf sozialen Aufstieg aufgegeben, diese – wie Zimmermann sagte, „allen Zeiten angehörende Geschichte der Marien, Magdalenen und Maggies“, hat der Komponist bei Jakob Michael Reinhold Lenz gefunden, der dieses Drama, eines der wichtigsten aus dem „Sturm und Drang“, 1776 als Kritik an den marodierenden Soldaten schrieb.

Die Inszenierung von Willy Decker in dem Bühnenbild von Wolfgang Gussmann nimmt die Figuren als Archetypen: der Verführer als ein fetter George-Grosz- Göring, Uniform, Stiernacken, Glatze, monströs. Dessen Verführung nicht wirbt, sondern allein auf seine Macht vertraut.

Die infantilisierte Marie sitzt in ihrer Guckkastenbühne, abgeschlossen, kein Ausweg irgendwohin, keine Alice, die in die Welt geht und innere und äußere Wunder erlebt. Die Bürgertochter Marie kann nur durch einen Weg aus ihrer Schachtel kommen: ihre Sexualität. Der Offizier, der um sie wirbt, ist die Welt, ist das Draußen, ist der Maßstab. Schütze, nähre, liebe mich, erkläre mir die Welt.

Es herrscht eine strenge Farbregie, die in ihrer mutigen Reduzierung wunderbar aufgeht: Im schwarz-weißen Kasten scheinen die einzelnen Stände in klaren Grundfarben auf: das zarte Blau des Bürgerstandes, das Sonnengelb der Aristokratie, das roteste, roheste Rot der Soldaten. Als aus dem umworbenen Mädchen das verlassene, weggeworfene geworden ist, als der Offizier sie einer vergewaltigenden Meute überlassen hat, trägt auch sie das Soldaten- Blut-Gewand, mit rasiertem Schädel, geächtet, zerstört. Diesem Absturz folgt das Bühnenbild wortwörtlich, die Schuhschachtelbühne gerät aus dem Lot, sie steht auf der Kippe, eine schräge Falle.

Zimmermann, Jahrgang 1918, der sich von seinem Vorbild Strawinski zur seriellen Zwölftonmusik als „Simultanmusik“ entwickelte, verwendet in den „Soldaten“ ein so ungewöhnlich großes Orchester, daß die Bläser aus einem zusätzlichen Nebenraum zugespielt werden, daß eine Gruppe aus Kontrabaß und Trompete in der Proszeniumsloge landet und zusätzlich aus Lautsprechern im vierten Rang Stimmen und Schreie, elektronische Bässe und gregorianische Gesänge zu hören sind. Zimmermann wollte die „panakustische Wirkung“, die Simultaneität auch des musikgeschichtlichen Gestern, Heute und Morgen, das für ihn mit „Kugelgestalt der Zeit“ in Verbindung gesetzt wurde. Das Ensemble der Sänger, durchweg brillant disponiert, und die Staatskapelle waren dieser Anforderung aber gewachsen.

In dieser musikalischen Vielfalt wirkte um so mehr die ordnende Klarheit der gefundenen Bilder: die zur Schräge sich senkende Rückwand, auf der die Soldaten wie Insekten bäuchlings hereinrutschen – die Figur der Großmutter, die wie das Weltgewissen durch die Szene schiebt, die die Zukunft weiß und doch nichts ändern kann – oder die Gräfin de la Roche, die Marie retten will und scheitert. Wichtigstes Requisit: die Stühle, die kleinen, die man auf den Arm nehmen kann wie ein Baby, die riesigen, die Marie kleiner scheinen lassen, als sie ist, und den Verführer größer, als er ist. Der Abend entwickelt besonders mit dem zweiten Teil große Magie.

Die Anklage, die Zimmermann von Lenz übernimmt, bleibt: „Und müssen denn die zittern, die Unrecht leiden. Und die allein fröhlich sein, die Unrecht tun?“ Lenz hat dies geschrieben, bevor ihn der Wahnsinn einholte und er unter dubiosen Umständen in Moskau auf der Straße tot aufgefunden wurde: „Unsere Kriege sind nicht Schauplätze unseres Muts und unserer Stärke, sondern Schauplätze unserer Schande.“

Auch Zimmermann wußte sich – wie Lenz – nicht zu helfen. Er beendete 1970 eine Arbeit mit dem Titel „Ecclesiastische Aktion“ über den Text „Ich wandte mich und sah alles Unrecht, das geschah unter der Sonne“, und nahm sich dann mit 52 Jahren das Leben.

Die Aufführung seiner „Soldaten“ in der neu erstandenen Semperoper in diesem immer noch so zerstörten, schwarzgebrannten Dresden hätte ihn gefreut.

„Die Soldaten“. Musik von Bernd Alois Zimmermann, nach dem Schauspiel von J.M.R. Lenz; Inszenierung: Willy Decker; Bühnenbild: Wolfgang Gussmann; Kostüme: Frauke Schernau, W. Gussmann; musikal. Leitung: Friedemann Layer. Nächste Vorstellungen: 5, 8. und 18. Februar; 23 und 26. April; 7. und 21. Mai