Beiläufiges im Lampenschein

Erleuchtung aus dem Schnurrbart. Zu Wolfgang Kubins Werkausgabe von Lu Xun  ■ Von Hans Christoph Buch

Lu Xun (ältere Schreibweise Lu Hsün) ist der berühmteste chinesische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts und zugleich ein moderner Klassiker, dessen Werk über die Grenzen seines Landes hinaus bis heute weiterwirkt. Hans Magnus Enzensberger hat einen Text von Lu Xun als Hörspiel inszeniert, und noch zu DDR-Zeiten hat Christoph Hein dessen Novelle „Die wahre Geschichte des Ah Q“ für die Bühne bearbeitet. Seit den dreißiger Jahren, als sein Name auch im Westen bekannt zu werden begann, ist Lu Xun öfter mit Gorki, seltener mit Brecht verglichen worden. Beides zu Recht: Mit Gorki, dessen Pseudonym auf deutsch „bitter“ bedeutet, hat er den spontanen Materialismus und die bittere Melancholie gemein, mit Brecht verbindet ihn seine geschliffene Dialektik und eine bis zum Zynismus reichende Ironie. Materialismus und Dialektik, diese Stichworte haben Lu Xun, ähnlich wie Brecht und Gorki, zum Leitbild für linke Literaten geradezu prädestiniert, und als solches wurde er, inner- und außerhalb Chinas, noch vor kurzem gepriesen: „Alle Mitglieder der Kommunistischen Partei, alle Revolutionäre, alle Schaffenden der revolutionären Literatur und Kunst müssen sich Lu Hsün zum Vorbild nehmen, müssen zum ,Büffel‘ für das Proletariat und die Volksmassen werden, ihnen alle ihre Kräfte, ihr ganzes Leben bis zum letzten Atemzug hingeben.“

Mit diesen wie eine Fanfare klingenden Worten hat Mao Tse- tung, Jahre nach dessen Tod, Lu Xun zum Denkmal stilisiert und zugleich als kulturrevolutionäres Vorbild kanonisiert; im gleichen Atemzug erklärte er Lu Xuns satirischen Stil für historisch überholt und dekretierte, in den von der Roten Armee befreiten Gebieten (und bald darauf in ganz China) „dürfen Essays nicht mehr einfach in der Form geschrieben werden, wie Lu Hsün sie schrieb“ (Rede über Kunst und Literatur in Yenan, 1942). Lu Xuns ideologische Vereinnahmung ging Hand in Hand mit der politischen Entschärfung seines Werkes – zu seinen Lebzeiten hatte Lu Xun nicht nur Kuomintang-Literaten, sondern auch kommunistische Schriftsteller heftig kritisiert – sowie mit verschärfter Zensur; der unter dem zynischen Motto „Laßt hundert Blumen blühen!“ begonnenen Säuberungskampagne der fünfziger Jahre fielen Lu Xuns engste Freunde und Mitarbeiter Hu Feng und Feng Hsüeh Feng zum Opfer. Daß die Partei ihn noch kurz vor seinem Tod 1936 trotzkistischer Tendenzen verdächtigte, wird in der Volksrepublik China ebenso verschwiegen wie die angesichts des offiziellen Personenkults peinliche Tatsache, daß Mao Tse-tungs Name in Lu Xuns mehrere tausend Seiten umfassendem Werk an keiner Stelle erwähnt wird.

Auch hier liegen die Parallelen zu Gorki und Brecht auf der Hand: Daß letzterer in Moskau und Ostberlin als unsicherer Kantonist galt, ist bekannt; weniger bekannt ist, daß Maxim Gorki nach vergeblichen Protesten gegen die Menschenrechtsverletzungen der Bolschewiki 1921 nach Italien emigrierte; erst Ende der zwanziger Jahre kehrte er in die Sowjetunion zurück, wo der 1936, möglicherweise auf Stalins Geheiß, ermordet wurde.

Lu Xun lebte in einer vorrevolutionären Phase, die durch den Boxeraufstand, die Besetzung Pekings durch ausländische Truppen, den Sturz der Ch'ing-Dynastie und die bürgerliche Revolution von 1912 gekennzeichnet war; die Bewegung des 4. Mai 1919, eine Mischung aus Jugendrevolte und Kulturrevolution, die zusammen mit der chinesischen Sprache und Schrift auch Familie und Gesellschaft reformierte, hat Lu Xun entscheidend geprägt, auch wenn sein Durchbruch zu literarischer Prominenz erst später erfolgte; den Nordfeldzug der Kuomintang von 1926, das Massaker kommunistischer Arbeiter in Schanghai und Kanton 1927, die japanische Invasion Chinas und die Bildung der antijapanischen Einheitsfront hat er in seinen Essays kritisch kommentiert und partiell vorweggenommen; Lu Xun wurde so zum Wegbereiter einer Revolution, deren Sieg er nicht mehr erleben sollte.

Anstatt mit Gorki oder Brecht, könnte man ihn ebensogut mit den großen Aufklärern des 18. Jahrhunderts vergleichen: Ähnlich wie Lessing oder Voltaire kämpfte Lu Xun zeit seines Lebens gegen die Orthodoxie, eine zum Dogma erstarrte konfuzianische Staatsdoktrin, in der die Unterordnung der Bürger unter die Beamten des Kaisers, der Frau unter den Mann und der Jugend unter das Alter auf alle Zeiten festgeschrieben schien; für aus Westeuropa, Nordamerika und Japan importierte fortschrittliche Ideen war in diesem Weltbild kein Platz, ebensowenig wie für moderne Medizin, Technik und Naturwissenschaft. In China gehen die Uhren anders: Das Mittelalter reicht hier dicht an die Gegenwart heran; noch zu Beginn unseres Jahrhunderts erklärten konfuzianische Gelehrte die Erde für viereckig und Länder wie Spanien und Italien für nichtexistent.

Aber nicht nur Lu Xuns Stellung in der Literaturgeschichte, auch sein satirischer Stil erinnert an europäische Aufklärer: Sein urbaner Witz verbindet ihn ebenso mit Lessing oder Voltaire wie seine klassische Bildung und umfassende Belesenheit, die es ihm ermöglichten, die konfuzianischen Gelehrten mit ihren eigenen Waffen aus dem Feld zu schlagen. Lu Xuns Essays sind dialogisch konzipiert, als Gedankenaustausch mit einem imaginären oder auch realen Brief- oder Gesprächspartner; ähnlich wie die Dialoge von Diderot sind sie lyrisch, prosaisch und dramatisch zugleich und überspringen die literarischen Gattungsgrenzen; sie handeln nicht von weltbewegenden Ideen, sondern von Alltagsdingen, und wie in Montaignes Essay über Kutschen sind existentielle Einsichten an entlegener Stelle versteckt unter Titeln wie „Mein Schnurrbart“ oder „Beiläufiges im Lampenschein“.

Lu Xuns Einordnung in ein westliches Koordinatensystem wird dadurch erschwert, daß das von Kommunisten und Kuomintang unterschiedlich akzentuierte Projekt der Moderne in China auch das 19. Jahrhundert umfaßt, von der Romantik bis zum Naturalismus: Aus dieser Sicht erscheinen Tolstoi und Dostojewski, Petöfi und Ibsen, die Lu Xun häufig zitiert, wie Zeitgenossen oder Brüder im Geiste, weniger durch historische als durch geographisch-kulturelle Distanz von seiner Zeit getrennt. Aufklärung und Romantik, Fortschrittsglauben und Skeptizismus, Individualismus und Engagement schießen in Lu Xuns Werk zu einer widersprüchlichen Einheit zusammen. Sein pessimistischstes Buch, die Prosagedichtsammlung „Unkraut“, die den Sinologen bis heute Rätsel aufgibt, könnte ebenso von Baudelaires „Blumen des Bösen“ inspiriert sein wie von Hans Christian Andersens „Bilderbuch ohne Bilder“, einem Kultbuch der Jahrhundertwende, das Lu Xun nachweislich gelesen hat. In diesem Zusammenhang weist Wolfgang Kubin zu Recht im Nachwort zu seiner Lu-Xun-Ausgabe auf den von der Forschung vernachlässigten Einfluß Nietzsches hin.

Damit bin ich endlich beim Thema. Die im Zürcher Unionsverlag erschienene sechsbändige Edition der Werke von Lu Xun, von einem Sinologenteam unter Leitung von Wolfgang Kubin neu herausgegeben, sorgfältig übersetzt und mustergültig kommentiert, füllt nicht nur eine seit langem fühlbare Lücke, sie ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einer vertieften Aneignung des modernen Klassikers aus China, dessen Beitrag zur zeitgenössischen Literatur, trotz wiederholter Anläufe, hierzulande nie so recht gewürdigt worden ist; Lu Xun ist ein Geheimtip geblieben. Die neue Werkausgabe könnte dem abhelfen, denn sie ist nicht für Sinologen, sondern für deutsche Leser gemacht, die die Neugier und den Mut aufbringen, sich auf das Abenteuer der Lektüre einzulassen: Sie werden reich belohnt.

Bei Unternehmen dieser Größenordnung gibt es naturgemäß Einwände zu erheben: „Die kurze Geschichte des chinesischen Romans“ fehlt in vorliegender Auswahl ebenso wie Lu Xuns Frühschriften antiquarischen Inhalts und die späten Essays, in denen er zu Fraktionskämpfen innerhalb der Linken Stellung nimmt – gerade in diesem Punkt hatte ich mir mehr Aufklärung erhofft. Aber dieser Einwand ist beckmesserisch, denn eine vollständige Übersetzung der auf über 20 Bände angewachsenen Gesamtausgabe ist weder realisierbar noch wünschenswert. Die vorliegende Edition enthält, von wenigen insignifikanten Ausnahmen abgesehen, alle zu dessen Lebzeiten veröffentlichten, wesentlichen Werke von Lu Xun, in gut lesbarer Übersetzung mit nicht zu knappem Kommentar, von Parteichinesisch oder Ideologie entstaubt, die wie der Kokon einer Seidenraupe die Texte überwuchert hat. Die Vertracktheit jeder Übersetzung aus dem Chinesischen, das wie eine Zeichensprache keine Grammatik kennt, zeigt der Vergleich zweier Übertragungen ein- und desselben Gedichts, bei dem erstaunliche Diskrepanzen zutage treten: Wo Jürgen Theobaldy „Pfirsichpuppen“ tanzen läßt, kommt in Wolfgang Kubins Version ein „Moloch“ an die Macht. Ohne hier über Richtig oder Falsch befinden zu wollen, scheint mir eine möglichst weitgehende Verkürzung und Verknappung dem lakonischen Ton des Originals am nächsten zu kommen.

Ich spreche aus leidgeprüfter Erfahrung, denn Anfang der siebziger Jahre habe ich zusammen mit der Dichterin Wong May eine Aufsatzsammlung von Lu Xun im Rowohlt Verlag auf deutsch herausgebracht. Beim Wiederlesen seiner Essays und Gedichte entdeckte ich einen anderen Lu Xun als den Kulturrevolutionär von 1919 und 1968: einen abgrundtiefen Melancholiker, der seine Verzweiflung nicht verdrängt, sondern in düstere Bilder und Metaphern umsetzt, die auf Kafka und Beckett vorausweisen. An die Nachtseite von Lu Xuns Werk knüpften die als „obskur“ gescholtenen Dichter einer jungen Generation an, die gegen den von oben verordneten Optimismus protestierten, bevor die Partei auf dem Tienanmen-Platz ein blutiges Exempel statuieren und ihren Protest von Panzern niederwalzen ließ. Auch dazu hat Lu Xun, ein Menschenalter zuvor, das Entscheidende gesagt: „Wenn die Herrschenden auch nur eine Spur von Gewissen hätten, hätten sie dann nicht ihr eigenes Verhalten überprüfen und das bißchen Verantwortungsgefühl, das noch in ihnen steckt, in die Tat umsetzen müssen? Statt dessen ließen sie die Studenten massakrieren . [...] Wenn China nicht zugrundegeht, dann hält die Zukunft, wie die Geschichte uns lehrt, für die Mörder eine böse Überraschung bereit: Dies ist nicht das Ende, sondern der Anfang einer neuen Entwicklung. Lügen, mit Tinte geschrieben, können niemals Fakten auslöschen, die mit Blut geschrieben wurden. Blutige Schuld wird mit gleicher Münze beglichen. Je mehr Zeit vergeht, desto höher die Zinsen!“

Lu Xun: Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Wolfgang Kubin. Unionsverlag Zürich, sechs Bände in Kassette, Leinen, ca. 1.500 Seiten, 198 DM