Das Haus, das Ruth baute

Am 6. Februar wäre George Herman „Babe“ Ruth aus Baltimore, die definitive Sagengestalt des Baseball, hundert Jahre alt geworden  ■ Von Thomas Winkler

Es ist die sagenumwobenste Geschichte des Baseball. Aber wie sie sich tatsächlich abgespielt hat, ist lange schon nicht mehr festzustellen. Sicher ist nur soviel: Im Jahre 1932 trafen in den World Series die New York Yankees auf die Chicago Cubs. Im fünften Inning des dritten Spiels hatte Babe Ruth schon zwei Strikes kassiert. Das heißt, er durfte sich keinen Fehlschlag mehr erlauben. Bevor der Pitcher Charlie Root zu seinem Wurf ansetzte, machte Ruth eine Geste. Die meisten Zuschauer dachten, der damals schon legendäre Outfielder der Yankees hielte einfach seinen Finger hoch, wie um zu sagen: „Einen hab' ich noch.“ Andere aber meinten, daß er genau auf die Mitte der gegenüberliegenden Zuschauerreihen deutete. Bedeutungsvoll wurde diese Geste erst, als Ruth den Ball unerreichbar genau dorthin beförderte.

Als „Called Shot“, angesagter Schlag, ging dieser Homerun in die Geschichte ein. Und das obwohl sogar Ruth selbst kurz nach dem Spiel diese Version bestritt. Der Called Shot wurde zum Zentralstück einer gewaltigen Folklore um Ruth, einer Fabel, die Ruth selbst irgendwann zu glauben begann und schwärmerisch immer wieder erzählte. Heroen brauchen ihre Legenden. Und Baseball ohne Heroen und Legenden wäre nur noch ein aktionsarmes Spiel, von dem Nichtamerikaner nicht einmal die Regeln begreifen.

Am 6. Februar jährt sich der Geburtstag von „The Babe“ zum 100. Mal. Gerade jetzt, wo Baseball durch einen inzwischen fast halbjährigen Streik, dessen Ende unabsehbar ist, eine seiner größten Krisen durchlebt. Neben unzähligen Buchveröffentlichungen und Zeitungs-Specials beschäftigt sich im April eine ganze akademische Tagung an der Hofstra University ausschließlich mit „Leben und Werk“ von Babe Ruth, eine Podiumsdiskussion mit dem Thema „The Called Shot“ inklusive.

Kein anderer Spieler verkörpert die Werte des Spiels so wie Ruth. Ein Spiel, das so poetisch ist wie sonst keines, das lebt von seiner Zähflüssigkeit, seiner ereignislosen Spannung, die von gewaltigen Schlägen, die jenseits des Spielfelds landen, ebenso auseinandergerissen wie strukturiert wird. Dieser Mensch, der sein Leben lang ein Kind geblieben ist, fokussiert all die Träume des durchschnittlichen Menschen, der wieder zum Kind wird, wenn er den „Boys of Summer“, wie die Baseballer zärtlich genannt werden, zusieht. Neben den Comic- Heften ruhen unterm Kopfkissen die Erinnerungen an die eigene Kindheit, an den wahren, glorreichen, noch nicht vom Geld verdorbenen Baseball. Und Ruth sah nicht nur aus wie einem Comic entsprungen, sondern lieferte auch die Geschichten und Rekorde, die Homeruns, von denen Väter ihren Söhnen erzählen.

Aber wie konnte es geschehen, daß ein nahezu ungebildeter, von seinen Eltern vernachlässigter und zudem mit einem unmöglichen Körperbau gesegneter Junge namens George Herman Ruth aus Baltimore zum größten Sportler aller Zeiten werden konnte? (Und für die Amis wird er das immer bleiben.) Und wie konnte jemand, der jede zweite Nacht in Bordellen verbrachte und die restlichen zumindest durchsoff, so daß seine Trainer Alka Seltzer in der Umkleidekabine horteten, um ihn für die fast täglich stattfindenden Spiele fit zu machen, eine Sportart nahezu im Alleingang revolutionieren? Nicht weniger als das tat Ruth.

In seinen ersten fünf Profijahren war er ein sehr guter Pitcher bei den Boston Red Sox, aber an der Legende wurde erst massiv gebastelt, als er 1920 für die damals unglaubliche Summe von 125.000 Dollar an die New York Yankees verkauft wurde. Schon während seines letzten Jahres in Boston hatte Ruth nur noch selten auf dem Wurfhügel gestanden und statt dessen einen neuen Homerun-Rekord aufgestellt: 29 mal in einer Spielzeit den Ball in die Zuschauerränge zu knallen war damals unglaublich. Fortan wurde Ruths Technik nachgeahmt. Und vor allem seine Einstellung, so hart wie möglich zuzuschlagen, auf Homeruns aus zu sein, wurde von vielen Spielern kopiert. Einmal schlug Ruth 60 Homers in einer Saison, ein Rekord, der bis 1961 hielt. Wenn er den Ball nicht traf, drehte er sich mindestens um 360 Grad und hatte Mühe, die Balance zu halten. Die 20er Jahre waren nicht nur die „Roaring Twenties“, sondern auch das Goldene Zeitalter des Baseball, „The Ruthian Age“.

Vier World Championships holten die Yankees mit ihm, ihr neues Stadion, bei dessen Einweihung „Babe“ natürlich zur Feier des Tages einen Homerun beisteuerte, hieß nur „The House That Ruth Built“, und am Ende des Jahrzehnts verdiente er 80.000 Dollar jährlich. Roger Hornsby von den Chicago Cubs kam ihm mit der Hälfte noch am nächsten. Damals soll Ruth den Hinweis, daß sein Einkommen jetzt größer sei als das des Präsidenten, mit folgenden Worten gekontert haben: „Ich hatte ja auch ein besseres Jahr als er.“ Doch ebenso wie der Called Shot wird auch dieses berühmteste Zitat von Ruth ins Reich der Legenden verwiesen, weil Ruth viel zu ungebildet gewesen sei und sich sowieso nicht für Politik interessiert hätte. So sind die schönsten Sprüche denn auch meist nicht verbürgt oder von anderen über ihn. Während Ruths Beerdigung in New York soll sich zwischen Pitcher Waite Hoyt und Third Baseman Joe Dugan folgender Dialog entwickelt haben: „Ich würde jetzt 100 Dollar für ein Bier geben“ – „Babe auch.“

„Er ist ein großer Mann in einem Kamelhaarmantel und mit einer Kamelhaarmütze, der vor einem Hotel steht, während seine riesigen Nasenlöcher die Versprechen der Nacht erschnuppern“, schrieb ein Baseball-Historiker über den vergnügungssüchtigen Ruth. In den 30ern wuchs sein Bierbauch so unaufhaltsam, daß er von den dünnen, staksigen Beinchen kaum noch gehalten zu werden schien, aber Ruth zertrümmerte weiter fleißig Sitzreihen und trat erst am 2. Juni 1935 im Alter von 40 Jahren zurück. Seinen Platz bei den New York Yankees nahm ein junger Spieler ein, der ebenfalls zur Legende werden sollte: Joe diMaggio. Am 16. August 1948 starb Babe Ruth an Kehlkopfkrebs, aber die Baseballwelt hat er bis heute nicht verlassen. In den statistiksüchtigen USA lebte er in seinen Rekorden weiter. So machte er noch posthum Henry Aaron das Leben zur Hölle, als der sich 1974 anschickte, den 714. Homerun seiner Karriere zu schlagen und so mit Ruth gleichzuziehen.

Aaron war einer jener Pioniere gewesen, die in den 50ern als erste die Rassenschranken im Baseball überschritten, und als er nun an den Sockel klopfte, meldeten sich einige Fans des Denkmals. Aaron bekam Tausende von Briefen, die mit „Dear Nigger“ begannen, und mußte sich wegen Morddrohungen Leibwächter zulegen. Immerhin werden Aarons schlußendlich 755 Homeruns wohl noch die nächste Ewigkeit stehenbleiben, während man nach Babe Ruth, dem „Sultan of Swat“ (swat = totschlagen, z.B. eine Fliege), in den offiziellen Rekordbüchern inzwischen vergeblich sucht.