■ Interview mit Marek Edelman, dem letzten überlebenden Kommandanten der Aufständischen im Warschauer Ghetto
: „Der posthume Sieg Hitlers“

Der 72jährige Marek Edelman war vor dem Krieg Mitglied der sozialistischen jüdischen Jugendorganisation „Cukunft“. Im Krieg trat er der Jüdischen Kampfgruppe bei, die den bewaffneten Widerstand im Warschauer Ghetto organisierte. Er wurde einer der Kommandeure der Aufständischen, nach der Zerstörung des Ghettos entkam er durch die städtische Kanalisation und schloß sich kommunistischen Partisanen an. Ein Jahr später nahm er am Warschauer Aufstand teil.

Während der antisemitischen Aktion der polnischen KP von 1968 wurde er mehrmals entlassen, emigrierte aber nicht. 1980 schloß er sich der Solidarność-Bewegung an. Bei der Verhängung des Kriegsrechts wurde er interniert. Er nahm auf der Oppositionsseite an den Verhandlungen am Runden Tisch 1989 teil und ist heute in der Parteiführung der Freiheitsunion der Ex- Premierminister Mazowiecki, Bielecki und Suchocka. Edelman arbeitet als Herzspezialist in Lodz.

taz: Ist es Zufall, daß Sie während der Feiern zum 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz in Bosnien waren?

Das war schon lange vorher geplant. Ich habe ja mit Auschwitz eigentlich nichts zu tun. Ich war ja kein Häftling.

Manchmal holt uns die Vergangenheit ein. Sieht aus, als habe sie uns jetzt eingeholt.

Nach dem Krieg schien es so, als würden wir mit Völkermord nichts mehr zu tun haben. Die Lehre aus der Tatsache, daß im Zweiten Weltkrieg 40 Millionen Menschen getötet wurden, hätte eigentlich dazu führen sollen, daß damit Schluß ist. Aber das menschliche Bewußtsein scheint anders zu funktionieren.

Der Völkermord während des Krieges hat nicht nur die hunderttausend SS-Männer demoralisiert, die ihn direkt begangen haben, sondern ganz Europa. Wenn der Mensch sieht, daß das Leben aufhört, höchster Wert zu sein, wenn er sieht, daß man Menschen zu Millionen ungestraft umbringen kann, schutzlose Kinder, Greise, dann zieht das selbst die Zeugen, die sich davon abwenden, mit hinein. Sie fangen an, anders zu denken. Das bleibt.

Was heute in Europa geschieht, ist eine Folge von Auschwitz?

Das ist der posthume Sieg Hitlers. Menschenverachtung, die Überzeugung, daß man mit Hilfe einer Ideologie alles tun kann: eine Todesfabrik bauen. Ein Land, das so viele Nobelpreisträger hervorgebracht hat, beginnt, sein Wissen darauf zu konzentrieren, wie man möglichst schnell möglichst viele Menschen umbringt! Das war eine Katastrophe für Europa. Danach schien es, als würde damit ein für allemal Schluß sein. Es kam anders. Auch der Kommunismus beinhaltet diese Menschenverachtung: Arbeitslager. Allein beim Bau des Weißmeerkanals kam eine halbe Million Menschen um.

In Deutschland gelten Vergleiche dieser Art als gewagt, vorsichtig ausgedrückt.

Ich habe einmal die Geschichte gehört von dem Ingenieur, der die Gaskammern projektiert hat. Der wurde auch nach Babi Jar geschickt, wo die Nazis ihre Opfer einfach zusammengeschossen haben. Da hat ihn jemand fotografiert, vor diesen Leichenbergen, und er hat das Bild nach Hause geschickt. Seine Frau hat es im Klavier versteckt. Was heißt das? Er hat sich schuldig gemacht, aber er hat damit die ganze Gesellschaft angesteckt. Warum hat die Frau das Bild versteckt? Weil sie wußte, daß das Abgebildete unmoralisch war. Sie wollte es vor den Kindern verstecken. Sie haben es dennoch gesehen.

Es ist nicht wahr, daß die Gesellschaft nichts davon gewußt hat. Wenn hunderttausend Menschen von etwas wissen, ist es unmöglich, daß Millionen nichts davon wissen. Das kann kein Geheimnis bleiben. Auch im ehemaligen Jugoslawien morden nicht nur die Serben. Die Kroaten und Bosnier sind auch keine Engel.

Der Krieg hat die Mentalität der Menschen verändert. Was passiert denn in Grosny? Völkermord oder nicht: Wenn eine Armee eine Stadt überfällt, in der nur Alte und Kinder zurückgeblieben sind, und diese dann bombardiert, ist das die gleiche Menschenverachtung.

Die Deutschen machen sich Ihrer Meinung nach ein zweites Mal schuldig, wenn sie davor die Augen verschließen?

Ja. Wenn man in Deutschland sagt, das sei eine innere Angelegenheit Rußlands, dann heißt das, die Deutschen schließen die Augen davor. In Ruanda war es ähnlich. Kann sein, daß die Franzosen ein bißchen nachgeholfen haben, wie manche behaupten. Aber als sie gesehen haben, was da gespielt wurde, haben sie Soldaten hingeschickt und damit die halbe Million Flüchtlinge geschützt.

Fanatiker kann man nicht überzeugen, es sei denn mit Gewalt. Und das Völkerrecht, das die Franzosen dabei verletzt haben, ist verbrecherisch. Wenn bei einem Völkermord die Grenzen fest und heilig sind, dann bedeutet das die Erlaubnis zum Völkermord. Das muß geändert werden. Wir brauchen eine internationale Macht, die am Anfang und nicht erst am Ende eingreift. Jetzt ist die Situation in Jugoslawien praktisch ausweglos. Aber am Anfang war das nicht so.

Wollen Sie mit dem Beispiel Frankreich sagen, die Deutschen sollten Truppen nach Bosnien schicken?

Absolut ja. Klar und deutlich.

Trotz der historischen Belastung?

Was soll denn das heißen? Damals waren sie dort, um zu morden, heute sollen sie hin, um das Morden zu beenden. Die Deutschen haben sich verändert, oder? Warum sollen sie dann nicht andere Menschen beschützen?

Es gab eine Zeit, da kamen die Kinder früherer SS-Männer zu mir, die saßen da, wo Sie jetzt sitzen. Zwanzigjährige. Erzählten, ihr Vater sei in diesem oder jenem Lager gewesen, als Wachmann. Sie wollten von mir wissen, was sie tun sollten, um wiedergutzumachen, was ihre Väter angerichtet hatten. Ich habe ihnen gesagt, sie sollten andere Menschen werden als ihre Väter, dafür kämpfen, daß das nicht wieder passiert. Diese Generation ist fähig dazu. Die Regierungen sind es nicht. Was nebenan passiert, interessiert sie nicht, ihre einzige Angst ist die, die Macht zu verlieren. Das ist die gleiche Mentalität wie 1937, bei der Besetzung des Ruhrgebiets. Die Welt hat alles zugelassen, den Anschluß Österreichs, Tschechiens. Und dann kam der Krieg.

Wenn es um Völkermord geht, geht es nicht um heilige Grenzen, sondern um Menschenleben. Grenzen sind nur Striche auf der Landkarte. Nationalstaaten sind ohnehin ein Unglück, Wir brauchen Bürgerstaaten.

Als ich davon sprach, daß uns die Vergangenheit einholt, dachte ich mehr an die Feiern zur Befreiung von Auschwitz.

Auschwitz war eine Katastrophe für die ganze Menschheit, nicht nur für diejenigen, die dort umgekommen sind. Als in Auschwitz gemordet wurde, war da kein Gott. Aber heute, wo Auschwitz ein Denkmal ist, reklamiert es plötzlich jede Religion für sich. Das ist religiöser Fanatismus. Es gibt Leute, die glauben, wenn sie dort ein Kreuz oder einen Davidsstern aufstellen, gehört Auschwitz ihnen.

Ja, es stimmt, daß dort über eine Million Juden umkamen. Aber auch Zigeuner, Polen und so weiter. Das gibt niemandem ein Recht auf Ausschließlichkeit. Die Kommunisten haben gesagt, dort seien fast nur Polen umgekommen. Wenn Walesa das wiederholt, dann heißt das, er hat die gleiche Mentalität. In den Schulbüchern stand nichts davon, daß das ein Lager zur Judenvernichtung war. Und so ist es in den Köpfen geblieben.

Man muß aber sagen, daß auch die Juden nicht viel getan haben, das zu ändern. Der Jüdische Weltkongreß hatte stets gute Beziehungen zu unseren kommunistischen Machthabern. Was Walesa getan hat, ist nicht in Ordnung, aber was Rabbi Weiss getan hat, genausowenig.

Da ist Rabbi Weiß, der auf recht kontroverse Art und Weise seit Jahren gegen christliche Symbole in Auschwitz protestiert. Aber Walesa repräsentiert Polen.

Edgar Bronfman ist nicht gekommen und der israelische Premier auch nicht, weil er beleidigt war. Mit diesen Millionen Toten darf man keine Politik machen. So eine Feierlichkeit muß ordentlich vorbereitet werden, nicht in letzter Minute. Das war das Schlimmste, dieses Chaos bei der Organisation.

Ist das eine Konsequenz des polnischen Antisemitismus?

Ach Quatsch! Das hat damit überhaupt nichts zu tun. Was soll das überhaupt heißen, polnischer Antisemitismus? Wenn es hier und heute ab und zu antisemitischen Lärm gibt, ist das eine rein politische Angelegenheit. Vor dem Krieg, da existierte ein Antisemitismus. Aber danach war das eine Sache der Kommunisten. Wer wurde denn in Polen zum Juden erklärt? Die Demokraten, Mazowiecki, Kuron, Michnik. So hat es die Propaganda während des Kriegsrechts verbreitet. Die Juden wollen die Regierung stürzen, hieß es. Ha! Das Volk wollte die Regierung stürzen! Interview: Klaus Bachmann

siehe auch das im Transit-Verlag erschienene Buch mit Gesprächsprotokollen von Überlebenden des Warschauer Ghettoaufstands, „Im Kreis“, in dem sich auch eine lange Gesprächspassage mit Edelman findet.