Traumhafte Adresse für Forscher

„Vom Elfenbeinturm aus sieht man sehr weit, wenn man es richtig anstellt“ – zum Beispiel in einer interkulturellen Berliner Denk-Oase. Ein Porträt des Wissenschaftskollegs  ■ von Thomas Hartmann

Eine alte Grunewald-Villa in der Nähe der Berliner Königsallee, umgeben von einem großen Garten, geräumige Leseräume, täglich mit internationalen Zeitungen versorgt, ein Betreuerstab von über zwanzig Personen, die für die knapp vierzig Wissenschaftler alle gewünschten Bücher aus europäischen Bibliotheken besorgen und wissenschaftliche Recherchen durchführen – das „Wissenschaftskolleg zu Berlin“ bietet Arbeitsbedingungen, von denen man nur träumen kann. Diese in Deutschland einmalige private Institution wurde 1980 mit Unterstützung des Berliner Senats sowie der Volkswagen-Stiftung gegründet. Mit Stolz trägt es den Untertitel „Institute for Advanced Study“ und gehört zum Kreis von acht renommierten Denk-Oasen dieser Art weltweit, unter ihnen das amerikanische Vorbild in Princeton.

Jedes Jahr lädt das Wissenschaftskolleg bis zu vierzig Wissenschaftler aus der ganzen Welt als Gäste – sogenannte „Fellows“ – ein, die in Berlin für zwei Semester die Möglichkeit erhalten, in Ruhe ein Forschungs- oder Publikationsprojekt weiterzuentwickeln. Sie wohnen in umliegenden Apartmenthäusern und werden finanziell durch ein großzügiges Stipendium abgesichert, damit sie sich ganz ihrer selbstgesetzten Aufgabe und dem Dialog mit den anderen Gästen sowie Berliner Wissenschaftlern widmen können: Denn dieser internationale und zugleich interdisziplinäre Gedankenaustausch gehört zu den Leitideen des Wissenschaftskollegs.

Die Selbstdarstellung gibt einen Einblick: Das Kolleg will „Kontakt- und Kooperationsmöglichkeiten bieten, die ein Höchstmaß an Anregung durch wechselseitige, produktive Verunsicherung erzeugen“. Man hofft, daß diese Erfahrungen mit anderen Wissensdisziplinen und Wissenschaftskulturen zu einer „interdisziplinären Zusammenarbeit über Fachgrenzen hinweg führen. Wichtig aber ist bereits eine Vorstufe der Kooperation: der Kontakt von Disziplinkulturen und Forschungsstilen. Ein Historiker mag vom Vortrag eines Zoologen nur wenig verstehen – doch vermittelt dieser einen Eindruck von der Finesse und vom Pathos experimentellen Arbeitens, wird auch der Fachfremde daraus Nutzen ziehen. Ähnlich mag es einem Physiker gehen, der lernt, daß Exaktheit nicht nur im Kalkül, sondern auch in der Philologie stecken kann und daß, wie Max Weber in seinem Vortrag ,Wissenschaft als Beruf‘ es beschrieb, für manchen Forscher das Schicksal seiner Seele davon abhängt, ,ob er diese, gerade diese Konjektur an dieser Stelle dieser Handschrift richtig macht‘.“

Finesse und Pathos der wissenschaftlichen Arbeit sind Schlüsselworte. „Gutes verbessern“ weht als Motto wie ein Geist durch die Gründerzeitvilla. Manche sehen darin einen bösen Geist, andere einen guten und vor allem hilfreichen. An Spitzenqualität jedenfalls ist das „Institute for Advanced Study“ interessiert. Ein Grund, warum es bisweilen als Eliteeinrichtung kritisiert wurde. Doch der Leiter des Wissenschaftskollegs, Prof. Dr. Wolf Lepenies, außerhalb der Wissenschaftsgemeinde auch als Spiegel- Essayist bekannt, weiß, daß es diese Spitzenqualität zu entwickeln, zu managen gilt. Und angemessene Rahmenbedingungen lassen sich nur bei angemessenem Renommee und angemessener Qualität durchsetzen. Also kontert er gelassen: „Vom Elfenbeinturm aus sieht man sehr weit – wenn man es richtig anstellt.“

Obwohl die bisher eingeladenen „Fellows“ sich mit einem breitgefächerten Themenspektrum aus Natur- wie Geisteswissenschaften beschäftigten, haben sich in jüngster Zeit zwei große Schwerpunkte herauskristallisiert: die theoretische Biologie und die Islamwissenschaften. Man will die starke Rolle von Berlin in diesem Bereich unterstützen und den wissenschaftlichen Austausch im Großraum Berlin befruchten. Gutes verbessern.

So zählen zu den Gästen dieses Jahres die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi, die über die Stellung der Frau in der Geschichte des Islam gearbeitet hat, die palästinensische Literaturwissenschaftlerin Salma Jayussi und der syrische Islamwissenschaftler Azis Al-Azmeh, der in seinen Büchern den „Kulturalismus“ im intellektuellen Dialog kritisiert, diese Haltung, verschiedenen Kulturen unumstößliche Eigenschaften anzuhängen. Für Al-Azmeh eine Art moderner Rassismus. Er kritisiert die Ontologisierung eines Prozesses. „Kultur“ werde dabei als abgeschlossene, festumrissene Einheit aufgefaßt, obwohl sie lebendig, in ständiger Entwicklung sei. Wer jedoch Zuordnungen festschreibt – wir erinnern uns etwa an Rudolf Augstein mit seiner These, die Türkei gehöre nicht zur demokratischen Kultur Europas –, leugne die Entwicklungspotentiale jeder Kultur, blockiere, statt zu gestalten.

Die Themenbereiche der Gastwissenschaftler sind allerdings trotz der Schwerpunkte auch dieses Jahr breit gefächert: So forscht der indische Wirtschaftswissenschaftler Amit Bhaduri über mathematische Modelle von Problemen des Übergangs zur Marktwirtschaft, sein Kollege aus Neu-Delhi, der Psychoanalytiker Sudhir Kakar, schreibt sein Buch über die Psychologie des Konflikts zwischen Hindus und Muslimen zu Ende. Die französische Sinologin Françoise Kreissler arbeitet über die kosmopolitische Gesellschaft Schanghais zwischen 1933 und 1949, während sich ihr japanischer Kollege, der Philosophieprofessor Mishima, mit dem Verhältnis der europäischen Geistesgeschichte zur Multikulturalität beschäftigt: „Ich möchte die europäische Philosophiegeschichte durchforsten, den philosophischen Diskurs in Europa, auch wenn er eurozentristisch war wie bei Hegel und Husserl mit ihren abschätzigen Bemerkungen über die nichteuropäischen Nationen. Auch die Japaner haben eine ethnozentristische Mentalität, viel schlimmer als in Deutschland. Doch es wird auch eine Migrationswelle auf Japan zukommen, ganz bestimmt, darauf müssen wir vorbereitet sein. Das braucht eine theoretische Grundlage. Ich genieße die Freiheit, mich ohne Universitätsadministration dieser Arbeit widmen zu können.“

Doch auch die Fellows beeinflussen das Kolleg. Dieses Jahr organisierten sie zum erstenmal einen Poesie-Abend mit musikalischer Begleitung. Als Grande Dame führte die palästinensische Dichterin und Literaturwissenschaftlerin Salma Yayussi durch den Abend, unterbrochen nur manchmal von ihrem Enkelkind, das mit der Tochter gerade zu Besuch in Berlin weilt. Professionalität und freundliches Bemühen von engagierten Laien, also Wissenschaftlern, die Lyrik vortragen, taucht das Publikum in ein Wechselbad. Das entspricht nicht gerade dem Stil des Hauses, und die Übertragungstechnik ist auch eher auf Vorträge als auf Musik eingestellt. Doch die gepflegte Salonatmosphäre kann einen Abend der Gruppenkreativität locker absorbieren. Die Gäste sind schließlich König. Und eine gute Atmosphäre unter den Fellows ist der beste Nährboden für eine ernsthafte Auseinandersetzung.