Der alte Traum von Heldentod und Freiheit

Einst holte das Osmanische Reich sie als Krieger nach Arabien. Heute würden sie eher in ihrer einstigen Heimat gebraucht: Über CNN-Fernsehen verfolgen Jordaniens Tschetschenen besorgt die Zerstörung ihres Landes  ■ Aus Amman Khalil Abied

„Gibt es Billard im Paradies?“ möchte der achtjährige Said wissen. Denn bevor er als „Märtyrer“ aus dem Leben scheidet, will er sicher sein, daß man sich im Garten Eden auch vergnügen kann. Sein Vater Schams ad-Din schmunzelt: „Das Billardspiel hat er von den größeren Jungen gelernt, und von ihnen hört er auch die ganze Zeit, daß sie nach Tschetschenien gehen wollen, um gegen die Russen zu kämpfen und sich für die Unabhängigkeit ihres Vaterlandes zu opfern.“

Said lebt nicht etwa in einer der an Tschetschenien angrenzenden Kaukasusrepubliken, sondern in Jordaniens Hauptstadt Amman. 15.000 bis 20.000 Tschetschenen leben nach Schätzungen in Jordanien. Zusammen mit den 50.000 bis 60.000 Tscherkessen, ebenfalls ein kaukasisches Bergvolk, bilden sie eine relativ starke nordkaukasische Minderheit im 3,5-Millionen- Staat Jordanien. Seit Beginn des russischen Angriffs auf Tschetschenien treffen sich jeden Abend Dutzende von ihnen im „Verein der Freunde Tschetscheniens“ und beraten über Unterstützung für ihre Heimat.

Der Verein wurde bereits 1989, noch zu Sowjetzeiten, zur Unterstützung der damals zuerst aufkeimenden Unabhängigkeitsbestrebungen der Tschetschenen gegründet. Die Vereinsräume liegen in einem zweistöckigen Gebäude über der Tankstelle eines Landsmanns, der als Hausbesitzer nur eine symbolische Miete verlangt. Der erste Stock ist für die Jugendlichen eingerichtet: In einem großen Saal stehen ein paar Tischtennisplatten und Billard-Tische.

Etwa 50 Jungen verbringen hier ihre Zeit. „Wenn wir die Jugendlichen versammeln, gelingt es uns vielleicht, ihre Wut und Anspannung unter Kontrolle zu bringen“, meint der 30jährige Hassan, der sich neben seiner Beschäftigung als Tischler für den Verein engagiert. „Für uns sind die USA und der gesamte Westen für die Tragödie in Tschetschenien verantwortlich. Dort redet man gern von Menschenrechten und dem Recht auf Selbstbestimmung, aber in der Praxis werden Jelzin und seine Verbrechen gegen ein kleines Volk, das in Freiheit und Unabhängigkeit leben will, unterstützt.“ Schams ad-Din greift in das Gespräch ein und ärgert sich. Er könne beim besten Willen nicht verstehen, warum Estland, Lettland und Litauen die Unabhängigkeit erhielten, Tschetschenien aber nicht.

Er ist überzeugt davon, daß dies ein Ausdruck dafür ist, daß der Westen die Muslime haßt und alles daran setzt, sie zu schwächen. Der Tischler und einige der Jungendlichen widersprechen: „Solche Redeweisen benutzen doch gerade die Russen, um zu beweisen, daß sie den islamischen Fundamentalismus bekämpfen. Aber die Russen sind eine Kolonialmacht, und wir sind Freiheitskämpfer.“

Seit Beginn des Krieges organisiert der Verein Medienkampagnen und sammelt Spenden. Zudem wurde das „Jordanische Komitee für die Verteidigung Tschetscheniens“ gegründet, in dem auch Jordanier und Palästinenser aktiv sind. „Wenn der Krieg zugunsten der Tschetschenen entschieden wird, werden wir unsere Beziehungen in der islamischen Welt nutzen, um das Land wiederaufzubauen,“ erklärt Vereinsvorsitzender Said Banu hoffnungsvoll. Im oberen Stock des Vereinszentrums sitzen die „weisen“ alten Männer – einige vor dem Fernseher. Mittels einer Satellitenschüssel können sie den CNN-Berichten aus ihrer „Heimat“ folgen. Für den alten Schams Tasch ist der Krieg gegen Tschetschenien eine Fortsetzung der Kriege des zaristischen Rußlands gegen Kaukasusvölker seit dem 18. Jahrhundert. „Unser Volk hat erst unter dem zaristischen und dann unter dem kommunistischen Regime gelitten. Stalin hat die Tschetschenen nach Sibirien verbannt. Heute will Jelzin den Kaukasus beherrschen.“ Die Angriffe der zaristischen Armee waren für seine Großväter Grund genug, ihre Heimat zu verlassen.

„Es gab eine Vereinbarung zwischen Rußland und dem türkisch- osmanischen Reich“, erklärt Schams die Geschichte seiner Vorfahren. „Rußland wollte so viele Kaukasier wie möglich loswerden, die Osmanen brauchten die nichtarabischen Minderheiten, um ihre Position in den arabischen Ländern zu sichern. Deshalb ermutigten sie uns, unsere Heimat zu verlassen und benutzten dabei unsere Religion, den Islam.“ Die Scheichs, die den Osmanen zu Diensten waren, wiederholten Tag und Nacht, daß wer im „Heiligen Land“ Palästina sterbe, sofort ins Paradies eingeht, erinnert sich Schams Tasch an die Geschichten, die er von seinem Vater gehört hat.

Die Osmanen verwandten alle möglichen Transportmittel, um Tschetschenen und Tscherkessen zu transportieren. Zu deren Überraschung endete die Reise jedoch nicht im heiligen Palästina, sondern in der jordanischen Wüste entlang der Eisenbahnlinie, die Damaskus mit dem heutigen Saudi-Arabien verband. Viele von ihnen wollten daraufhin zurückkehren, um lieber im Kaukasus zu kämpfen.

Aber es war zu spät: Im Ersten Weltkrieg forderte Als Prinz Abdallah, Begründer des haschemitischen Königreichs und Großvater des heutigen jordanischen Königs Hussein, die Scheichs aller Kaukasusstämme auf, ihre Männer für den Kampf gegen die Osmanen zu mobilisieren. Unter Abdallah und unter dem Schutz der britischen Siegermacht wurde Jordanien schließlich nach dem Krieg unabhängig – und seither spielen Tschetschenen und Tscherkessen eine nicht zu unterschätzende Rolle in der jordanischen Armee. Sie haben auch wichtige Posten im Geheimdienst und in der Luftwaffe inne und verfügen im Parlament über drei Sitze. Ein Ministerposten ist ihnen ständig garantiert.

Mit dem offiziellen jordanischen Standpunkt zum Krieg in Tschetschenien sind sie jedoch unzufrieden. „Das Regime hat die brutale russische Aggression nicht klar verurteilt.

In den offiziellen Medien werden die tschetschenischen Soldaten als Rebellen bezeichnet“, sagt einer der Männer im Verein. „Wir wissen, daß Rußland einen großen Markt für jordanische Produkte darstellt. Auch hat Jordanien Schulden in Moskau zu begleichen. Hinter vorgehaltenener Hand erklären uns jordanische Offiziere, daß sie die Tschetschenen unterstützen. Das wichtigste für uns aber ist die Stimmung in der Bevölkerung – und die ist mehrheitlich auf unserer Seite.“