Demokratie ohne Reform, Reform ohne Demokratie

■ Polens Intellektuelle malen das Bild eines Dikators Walesa an die Wand / Tatsächlich nützen sie die Regierungskrise, um selbst an die Macht zurückzukehren

Warschau (taz) – Lech Walesa ist ein Risiko für die Demokratie – dieses Bild haben seine früheren Mitstreiter, die Intellektuellen der Freiheitsunion, immer wieder warnend an die Wand gemalt. Die Überlegungen Walesas das Parlament aufzulösen, scheinen diese Überzeugung nun zu bestätigen. Doch wie gefährlich ist der Präsident wirklich?

Walesa versucht seit Jahren, in den Streitkräften und den Geheimdiensten Fuß zu fassen. Dafür gibt es zwei mögliche Erklärungen: Er braucht beide, um sie gegen Gegner einzusetzen, oder er versucht, sie neutral zu halten, damit sie von seinen Gegnern nicht gegen ihn eingesetzt werden. Einer Umfrage unter Offizieren zufolge stehen diese jedoch mit überwältigender Mehrheit hinter den Sozialdemokraten und nicht hinter Walesa. Keine sonderlich gute Ausgangsposition für einen Putsch gegen das Parlament.

Würde Walesa das Parlament trotzdem auflösen, wäre dies Verfassungsbruch. Doch darüber entscheidet im Zweifelsfall das Verfassungsgericht und nicht das Parlament bei dem von ihm angekündigten Staatstribunal. Doch wenn es gegen den Präsidenten geht, scheinen sowohl der Opposition als auch den Regierungsparteien alle Mittel Recht. Plötzlich war so auch vergessen, daß Walesa in seiner Amtszeit zwar manchen Blödsinn geredet und getan hat, daß er eines aber immer im Auge behalten hat: Polens Reformen.

Diese Reformen verteidigte er gegen die rechtspopulistische Regierung Olszewski, gegen streikende Gewerkschaften, gegen seine eigene Wählerschaft und gegen die jetzige Regierung Pawlak. Das Ergebnis ist, daß er heute weit weniger Anhang in der Bevölkerung hat als vor fünf Jahren. Walesa hat für Polen die Demokratie erstritten, die Reformen verteidigt und die Westintegration abgesichert. Nichts davon kann Polens Regierung für sich reklamieren. Sie hat in den Wahlen fast eine Zweidrittelmehrheit erhalten, aber in den anderthalb Jahren ihrer Regierung keine einzige wichtige Reform weitergebracht.

Woher also kommt es, daß die Freiheitsunion, die im In- und Ausland als Garant für Polens Demokratie gilt, Walesa für eine größere Gefahr für diese Demokratie hält als die Wendekommunisten? Seit dem Ende der achtziger Jahre betreibt der linksgerichtete Teil der ehemaligen Solidarność-Intellektuellen (Kuron, Michnik, Geremek, Kuratowska, Frasyniuk) ein Bündnis mit dem liberalen Flügel der einstigen PVAP. Am Anfang stand dahinter die Furcht vor einem nationalistischen Rechtsruck in Polen. Der ist bekanntlich ausgeblieben. Geblieben ist der Wunsch nach dem „linken Reformbündnis“. Daher die Zurückhaltung der Opposition gegenüber der Regierung: Mit jeder Attacke, die die Freiheitsunion gegen Pawlak hätte reiten können, hätte sie mindestens auch zur Hälfte die Sozialdemokraten getroffen. Und mit denen soll ja koaliert werden.

Bisher gab es dagegen starken Widerstand beim rechten Flügel der Union. Der ist geringer geworden, seit die Parteilinke Walesa als potentiellen Diktator an die Wand malen kann. Nun scheint die Zeit reif für den großen Wurf.

Walesa hat genug von Pawlak, der mehr Entscheidungen verschleppt als fällt und trotzdem bei der Landbevölkerung Polens beliebter als Walesa und damit ein bedeutender Rivale für die Präsidentschaftswahlen im Herbst ist. Was für ein glücklicher Zufall, daß der gleiche Pawlak auch der Freiheitsunion im Weg ist, weil er einer Koalition mit den Exkommunisten entgegensteht. Also zitiert Walesa die Führung der Union zu sich und droht „ganz unter uns“ mit Parlamentsauflösung. Das tut er so überzeugend, daß die Parteiführung der Union anschließend sofort die Alarmglocke schlägt: „Walesa meint es diesmal ernst.“ In Wirklichkeit haben beide Seiten an einer solchen Meldung Interesse: Walesa paßt sie in den Kram, weil sie Pawlak gefügig macht, den linken Unionisten paßt sie, weil sie die innerparteiliche Rechte für das anstehende Bündnis mit den Exkommunisten auf Linie bringt. Denen kann man die langersehnte Linkskoalition aus ehemaligen Kommunisten und ehemaligen Dissidenten dann als letzten Rettungsanker vor dem Diktator Walesa schmackhaft machen.

Die gesellschaftliche Reformmehrheit, die 1990 existierte, ist zerbröckelt, und seitdem steht Polens politische Elite vor dem Problem, wie man harte Wirtschaftsreformen gegen die Bevölkerung durchsetzt. Walesa scheint zum Schluß gekommen zu sein, daß die Demokratie da hinter den Reformen zurückzustehen hat. Die Regierung Pawlak ist zum Schluß gekommen, daß die Demokratie vor den Reformen kommt. Deshalb hat Polen heute nicht die Wahl zwischen Diktatur und Demokratie, sondern zwischen Walesas Reformen ohne Demokratie und Pawlaks Demokratie ohne Reformen. Der dritte Weg aus dem Dilemma ist nun in Vorbereitung: Macht und Einfluß der Exkommunisten plus Ansehen und Reformeifer der ehemaligen Dissidenten der Freiheitsunion. Klaus Bachmann