Klassenfahrt

■ betr.: „Wir können es nicht wieder gutmachen, Herr Böing“, taz vom 27. 1. 95

Die Beschreibung der Gedenkstättenfahrt mit meiner Klasse „auf den Spuren von ,Schindlers Liste‘“ fällt aus dem Rahmen der seriösen Artikel der taz vom 27.1. aus Anlaß des 50. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz heraus. Hier werden Lehrer und SchülerInnen zu Witzfiguren, die Überzeichnung zum journalistischen Effekt.

Die Autorin sagt nirgends, ob sie einen Sinn in einer solchen Reise sieht. Meint sie, daß ein Besuch von „Schindlers Liste“ am heimischen Ku'damm eine nachhaltigere Lernerfahrung sei? Und daß selbst der Krakauer Jude, der das Todeslager überlebt hat, in der von ihr gesehenen Konkurrenz mit dem Film in der Gunst der SchülerInnen der Verlierer bleibe?

[...] Trotzdem würde ich wieder mit einer ganzen Klasse nach Auschwitz fahren, auch wenn es anstrengende Arbeit ist. Ich würde wieder einverstanden sein, daß Journalisten die Klasse begleiten, auch auf das Risiko hin, anschließend als unsensibler, autoritärer, auf sich selbst bezogener „Lehrer Böing“ karikiert zu werden, der den Blick für seine Klasse verloren hätte.

Es erscheint naheliegend (bei so einem „Titanen“), Partei für die SchülerInnen zu ergreifen. In dem Artikel schlimmerweise nur an der Oberfläche. Denn darf es für die Öffentlichkeit bestimmt sein, zumal alle Namen genannt werden, 16 SchülerInnen eine „marode Familie“ als Herkunft zuzuschreiben? Ich finde, hier hört der Spaß an der Szene-Sprache auf.

Der Artikel legt nahe, daß das Museum Auschwitz geschlossen würde und entmutigt KollegInnen, eine Reise mit Haupt- und Gesamtschulklassen dorthin zu unternehmen. Beides akzeptiere ich nicht.

Erinnerung am Ort Auschwitz ist weiterhin notwendig, um eine Wiederholung zu verhindern. Bei der Vermittlung dieses Ziels mag ich in den Augen der Autorin versagt haben. Das Ziel selbst gebe ich nicht auf. Wenn es gelingt, aus dieser Erinnerung Identifikation entstehen zu lassen, müssen dann auf dem Gelände von Birkenau Kaugummi, Zigaretten, Eis und lärmende Fröhlichkeit nicht stören? Auf die suggestiv gestellte Frage „Sollen wir heulen?“ kann ich gut mit „Ja“ antworten. [...] Axel Böing, Berlin

[...] Unsere Lehrergeneration hat gewiß genügend Grund, sich mit ihrer moralisierenden Geschichtsbewältigung auseinanderzusetzen, aber Ihr Artikel ist für mich ein Armutszeugnis journalistischer Arbeit zum Thema.

Einerseits vermitteln Sie über detaillierte Schilderungen (inklusive Speisefolge der Cafeteria in Auschwitz!) den Eindruck, immer mittendrin im Geschehen zu sein, andererseits bleiben Sie für mich als eigene Person gänzlich abwesend. Die konsequente Vermeidung der Ich-Form soll wohl die Rolle der objektiv Beobachtenden vermitteln. Jedoch liegen für mich hinter Ihren sprachlich gewollt- flotten Beschreibungen unglaublich subtile und anmaßende Wertungen aller Beteiligten. Die von diffuser Solidarität geprägte Beschreibung der Jugendlichen und ihrer Gefühlslage wird zynisch und zeugt von tiefster Mißachtung, wenn sie deren „versoffene Eltern“ und „marode Familien“ erwähnen. Dieser Art von Einfühlung geht – wie ich zwischen Ihren Zeilen lese – dem „Lehrer Böing“ ab, dessen Augenbrauen voller Unverständnis mehrmals „zu einem dunklen, borstigen Strich zusammenwachsen“, wenn er seine SchülerInnen zur Ordnung ruft.

Wer beschreibt uns Ihren Gesichtsausdruck, Bascha Mika, wenn Sie von den Vernichtungslagern in Auschwitz sprechen oder als Sie beobachteten, wie die Jugendlichen auf den Gleisen vor der Rampe herumtanzten?

Als meine eigenen Schüler damals in Birkenau laut lachend und Chips futternd auf den Krematorien herumtollten, habe ich sie auch wie „Lehrer Böing“ ziemlich schroff und moralisierend ermahnt. Erst später dachte ich über meine Rolle nach und konnte die Jugendlichen besser verstehen, als sie sagten: „So viel Schrecken an diesem Tag war uns einfach zu viel!“ Manchmal brauchen Lernprozesse eben ihre Zeit, bei Lehrern – und bei Jugendlichen. Dazu gehört Bereitschaft zu Austausch und Gespräch, vielleicht auch Streit. Dies jedoch scheinen Sie während einer ganzen Woche – und danach – nicht gesucht zu haben.

Ihre Kommentierung der Schüler-Veranstaltung nach der Reise enthält für mich eine besondere Arroganz. Die Jugendlichen wagen es doch tatsächlich, die Konflikte, die für Sie offensichtlich das Wesen der Reise ausmachen, gar nicht mehr zu erwähnen! Vielleicht hätten Sie sich einfach mal die Mühe machen sollen, Ihre Mitreisenden einige Zeit nach ihrer Rückkehr darüber zu befragen, worüber sie noch nachdenken, woran sie sich erinnern. Oder mit ihnen Ihren Artikel vor seiner Veröffentlichung diskutieren. Ursula Pfender, Berlin

Ich will mehr solcher Artikel lesen! Wie schön, daß einige JournalistInnen noch hinsehen können, was mancher Lehrer sich anscheinend schon abtrainiert hat!

In meiner Referendariatszeit lag uns unsere Hauptseminarleiterin immer mit dem Satz „Man muß die Schüler da abholen, wo sie sind und darf die Meßlatte nicht zu hoch, aber auch nicht zu niedrig ansetzen“ in den Ohren. Aber Lehrer sollen ja lernfähig sein, und in der Nachbereitung hat Lehrer Böing sicherlich einen konstruktiven Dialog mit den Schülern über die unterschiedliche Art der Betroffenheit in verschiedenen Generationen aufgenommen, die Frage diskutiert, warum er eine (Betroffenheits-)Haltung über Tage durchhalten kann (vielleicht ja auch, ab welchem Alter er das konnte) und die Schüler nicht, wessen Haltung besser/moralischer ist, mit wessen Verhalten man besser lebt, wem und wozu welches Verhalten nützt usw. Und bei der hoffentlich nächsten Reise nach Auschwitz kann es dann richtig spannend werden, wenn man nicht nur das Thema im Auge hat, sondern auch die Beziehungen untereinander. Ulli Joßner, Berlin