Im Kontrabaß schwirren Fliegen, Amy schlägt sie weg

■ Im Schlachthof: Ein weiterer Versuch, Hölderlins Texten über eine Improvisation zwischen Tanz und Musik näherzukommen / Amy Coleman versteckt sich hinter blauem Samt / Michael Jarre vermittelt Bildungsgut

„Hölderlin, der eigentliche Dichter der Jugend“, schrieb Georg Herwegh 1839, und tatsächlich ist Friedrich Hölderlin wie kaum ein anderer Dichter in der jüngsten Vergangenheit nicht nur rezipiert, sondern auch zur Textgrundlage mehrerer Kompositionen gemacht worden. Was es mit der Aktualität des Dichters, dessen vierzigjähriger „Wahnsinn“ heute als Flucht vor den deutschen Zuständen gedeutet wird, auf sich hat, hätte jetzt im Schlachthof in einer Eigenproduktion nachgeprüft werden können. Die Tänzerin Amy Coleman, der Schauspieler Michael Harre und der Musiker David Jehn (Kontrabaß und Flöte) taten sich zu einem Abend zusammen, den sie „Improvisation“ nannten.

Das Problem, in einer Improvisation, wenn's denn überhaupt eine war, durch den Text eine feste Vorlage zu haben, führte leider nicht zu einer konstruktiven Spannung. Michael Jarre im schwarzen Anzug und großem schwarzem Buch liest vor: ein Oberlehrer, der irgendein Bildungsgut vermittelt. Es fehlten Zwischentöne und emotionale Differenzierungen der unterschiedlichen Texte, die eigentlich voll sind von geradezu seherischen Intuitionen und dunklen und mythischen Symbolen. Jede Schlußzeile brach ihm ab, als wäre er froh, jetzt mal wieder Pause zu haben.

Dazu, daneben, danach und davor der Tanz von Amy Coleman, der mit Sicherheit der ausverkaufte Saal zu verdanken ist. Hans Kresniks Sylvia Plath, Ulrike Meinhof (und viele andere unvergeßliche Gestalten mehr), gelang hier eine Eigenchoreographie, von der man kaum glauben mochte, sie sei eine Improvisation. Wie dem auch sei: Was diese Tänzerin an technischem Können, an innerer Rhythmik, an emotionalen Wechseln, die sie direkt in eine Körperhaltung und Bewegung umzusetzen in der Lage ist, an einer großen Palette zwischen Leid und durchaus auch Ironie zeigte, lohnte den Abend, der allerdings nicht unbedingt die Texte von Hölderlin brauchte. Amy Coleman erfand wunderbare unaufgesetzte Bilder: voller Poesie und voller Dramatik. Der Abschnitt mit dem dunkelblauen Samttuch, das Verstecken ihres Gesichtes unter dem weißen Hemd: Bilder, die man von Kresnik her kennt. Was sie mit Kesnik verbindet, ist die ungemeine Präzision ihrer Geste, was sie trennt, ist die poetische Vieldeutigkeit ihrer Expressionen.

Das versuchte Gemeinsame wurde an einigen wenigen Stellen dicht, wenn zum Beispiel die Musik und der Tanz das Gedicht „Der Sommer“ antizipieren. Der Kontrabaß klingt hier wie ein Insektenschwarm, und die am Boden liegende Tänzerin schlägt die Fliegen weg: ein ganz einfaches, aber wunderschönes Bild, was zusammen mit dem gleißenden Licht so eine richtige Hitze erzeugte: „Das Erntefeld erscheint...“ heißt es bei Hölderlin. Oder Colemans ausdrucksstarkes, ja verweifeltes Gegenbild zu „Freundschaft“, oder der zu „Diotima“, jener auf der Wahrheit seiner unglücklichen Liebe zu Susette Gontard basierenden Utopiegestalt des kranken Dichters.

Auch der Kontrabassist David Jehn klinkte sich in die Auseinandersetzung mit Tanz und Text nur dürftig ein, hatte einige gute Ideen, aber insgesamt weder das instrumentale Können noch die dialektische Sprunghaftigkeit, die Coleman mit ihrer Leistung permanent einklagte und die aus dem behaupteten Anspruch ein spannungsvolles Viertes hätte entstehen lassen können. Hölderlin schrieb an einer Stelle: „Was bleibt aber, stiften die Dichter“. An diesem Abend hätte man sagen müssen, „...stiftet der Tanz“.

Ute Schalz-Laurenze