Aitmatow steht nicht für ein System

■ betr.: „Das Portrait: Tschingis Ait matow“, taz vom 8. 2. 95

[...] Das Portrait ist so oberflächlich und zudem politisch unsensibel, daß ich gar nicht verstehe, warum Ihr es überhaupt „zeichnen“ mußtet.

Anke Westphal schreibt, Aitmatow sei einer der meistgelesenen Schriftsteller. Ab wo? Nämlich in der gesamten ehemaligen UdSSR, von der die Autorin nichts weiter zu berichten weiß als die Floskel vom „faulenden, parasitären und sterbenden Sozialismus“. Aber Aitmatow steht nicht für ein System. Er steht für alle, die in einem System – welches auch immer – Menschen einer Erde sein wollen. Aitmatows Figuren so wie er selbst sind nicht Menschen eines Systems, sondern Menschen im Spannungsfeld von Natur und Gesellschaft, im Spannungsfeld der elementaren Kräfte wie Liebe, Geburt und Tod, Verantwortung, Egoismus und Ganzheit. Darin sehe ich Aitmatows Genialität und den Grund für seine Popularität – im Osten der Welt.

Als Kirgise gehörte er zu einem vom Zarismus und der Sowjetmacht ausgebeuteten Volk; und deshalb und trotzdem ist es ihm gelungen, in seinen Geschichten immer wieder Synthesen zu schaffen, die sich über Macht und Unterdrückung erheben.

Wie zynisch oder auch nur dumm schreibt Anke Westphal über Aitmatows biographischen Hintergrund: sein Großvater Opfer des Zarismus, sein Vater ermordet von Stalinisten. Das liest sich in der taz als „familiär erlittene, nicht ganz beschwichtigte Tragödie“. Ist das peinlich! Eine Tragödie war der Stalinismus?! Jenseits von Schuld und Alternativen?

Zum Schluß „vermißt“ sie „den Autor“. 1994 ist Aitmatows letzter Roman erschienen: Das Kassandramal. In seiner „philosophisch- sittlichen“ und politischen Brisanz empfehle ich ihn als Pflichtlektüre für jede/n taz-SchreiberIn; zumindest aber, wenn sie oder er sich über Aitmatow auslassen will. Sabine Bartsch-Kappauf,

Bremen