Spurensuche in der Biologie

Seit Jahrtausenden spekulieren Menschen über die Entwicklung von Lebewesen  ■ Von Andreas Sentker

„Es ist wie beim Legospielen“, erklärt Gerd Jürgens. „Wir stoßen immer wieder auf ähnliche Bausteine. Die Frage ist: Teilen unterschiedliche Organismen wie Pflanze und Tier nur die Elemente, die die Entwicklung steuern, oder sind auch die Prinzipien gemeinsam?“ Der Tübinger Genetiker geht einer der spannendsten biologischen Fragen nach: Wie entsteht aus einer einfachen Zelle das komplexe Gefüge eines erwachsenen Lebewesens?

Schon in der Antike ist das Problem heftig umstritten. Hippokrates und der griechische Naturphilosoph Anaxagoras behaupten, das Samenmaterial werde aus allen Köperteilen zu den Fortpflanzungsorganen transportiert. Aristoteles mag an dieses Konzept nicht so recht glauben. Wie sollen Merkmale wie Verhalten und Bewußtsein, Haarfarbe und Körpergröße in einem Samen vereinigt werden? Die Männchen, folgert der Philosoph und Naturforscher, liefern mit ihrem Samen das formgebende Prinzip, griechisch eidos, das das weibliche Menstrualblut, katamenia, gestaltet.

Noch im 17. Jahrhundert ist der Streit um die Vererbung nicht beendet. Die Vertreter der Präformationslehre glauben einen winzigen Homunkulus zu erkennen, der in der menschlichen Keimzelle nur auf den entscheidenden Entwicklungsanstoß warte. Die Spermisten vermuten den Embryo in den Köpfen der Samenfäden, die weibliche Keimzelle hat nur den Proviant für die kraftraubende Entwicklung zu liefern. Die Ovisten hingegen glauben, das Menschlein sitze in der Eizelle und warte nur auf das entscheidende Startsignal beim Eintreffen eines Spermiums.

Erst im 18. Jahrhundert verbreitete sich das Gegenkonzept. Die Ideen von Anaxagoras und Hippokrates münden in eine Vererbungstheorie, die einen genetischen Beitrag beider Elternteile vorsieht. Diese Epigenese, soviel ist klar, bedarf einer übergeordneten intelligenten Steuerung – eine gefährliche Annahme im Zeitalter der Hexenverbrennung.

Die Suche nach dem System, das aus einer menschlichen Eizelle immer wieder einen Menschen werden läßt, ihn mit Gliedmaßen und Organen versieht und mit mehr oder weniger Intelligenz ausstattet, fasziniert auch heute noch die Wissenschaftler. Doch nicht der Homo sapiens, sondern zwei sehr viel einfachere Organismen liefern die ersten wichtigen Hinweise.

Der Fadenwurm Caenorhabditis elegans, ein bescheidener Bewohner von Blumentöpfen und Komposthaufen, hat wissenschaftliche Karriere gemacht. Er gilt als das am besten erforschte Tier der Welt. Innerhalb von drei Tagen entwickelt sich aus einer winzigen Eizelle der ausgewachsene Wurm, etwa einen halben Millimeter lang und kaum dicker als ein Haar.

Sein Entwicklungsprinzip scheint so einfach zu sein wie der Bauplan des Tieres: „Wer du bist, hängt davon ab, wer deine Vorfahren waren“, erklärt der Wurmexperte Sydney Brenner das identitätsstiftende Prinzip der Zellstammbäume. Jede Zellteilung legt den weiteren Entwicklungsweg fest, jedes Organ besteht immer aus derselben Zahl von Zellen – ein ebenso simples wie geniales System. Doch ganz so einfach ist es nicht. „Die Abstammung spielt keine so wesentliche Rolle“, erläutert Gerd Jürgens das inzwischen revidierte System. Heute dreht man ein altes Argument um: Weil die Würmer eine konstante Zahl von Zellen haben, darf keine aus der Reihe tanzen. „Gruppenzwang im Gewebe“ nennt Jürgens die komplexen Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Zellen.

Weitere Hinweise stammten von einem klassischen Objekt genetischer Begierde. Die Taufliege Drosophila melanogaster war schon in den zwanziger Jahren von dem Amerikaner Thomas Hunt Morgan als Modellorganismus für Kreuzungsversuche genutzt worden. Die Erfolge der Molekulargenetiker ließen das Haustier der klassischen Genetik zunächst in Vergessenheit geraten. Auf der Suche nach dem formgebenden Prinzip aber wird Drosophila wiederbelebt. Man erinnert sich an seltsame Mutationen, die bei einigen Tieren anstelle der Antenne zusätzliche Beine am Kopf wachsen lassen. Die Wissenschaftler stoßen auf die für solche Fehlbildungen verantwortlichen Gene.

Das Konzept scheint gefunden: In strenger hierarchischer Ordnung entscheiden sogenannte Regulationsgene über die Aktivität anderer Genabschnitte, legen vorne und hinten, oben und unten im Ei fest. Die Molekulargenetiker stoßen auf Indizien, von denen mancher Staatsanwalt nur träumen kann. Zur rechten Zeit und am rechten Ort werden die Kontrollgene aktiv. Sie sorgen dafür, daß aus einer embryonalen Anlage an der richtigen Stelle Beine oder eben Antennen wachsen, bestimmen die korrekte Zahl der Körpersegmente und deren Orientierung. Doch das elegante Fliegenmodell ist nur bedingt tauglich. Andere Organismen scheinen andere Entwicklungswege zu beschreiten. Gerd Jürgens ist sehr vorsichtig. „Unser Wissensstand ist eine Momentaufnahme. Wir halten einen Film an und betrachten das Standbild. Währendessen geht die Entwicklung längst weiter.“

Der Tübinger Genetiker hat sich auf ein unscheinbares Unkraut spezialisiert: Arabidopsis thalina, zu deutsch Ackerschmalwand. Die grüne Genetik hat lange Zeit einen schweren Stand. Im späten Mittelalter entbrennt ein heftiger Streit um die Sexualität der Pflanzen. Im Hortus medicus, dem ersten Botanischen Garten der Universität Tübingen, entdeckt Rudolph Camerarius das Sexualleben in der Pflanzenwelt. Vierzig Jahre nach der entscheidenden Veröffentlichung im Jahr 1694 empört sich ein Zeitgenosse: „Wer möchte glauben, daß von Gott so verabscheuungswürdige Unzucht im Reich der Pflanzen zur Fortpflanzung eingerichtet worden ist?“ Noch heute existiert eine seltsam verschrobene Vorstellung in den Köpfen: „Tiere entwickeln sich, und Pflanzen wachsen eben“, schildert Jürgens die Vorbehalte.

Die Entwicklung der Pflanzen gibt tatsächlich viele Rätsel auf. „Wir können nicht einfach Drosophila nehmen und grün anstreichen.“ Und doch scheint es Parallelen zu geben. Wie bei der Fliege finden die Forscher pflanzliche Gene, die zu einem definierten Zeitpunkt aktiv werden und für die Bildung von Blüten- oder Staubblättern verantwortlich sind. „Zumindest in der späten Entwicklung gibt es Gemeinsamkeiten“, bestätigt Jürgens. Seine Arbeit mit frühen pflanzlichen Embryonalstadien aber sorgt für Überraschungen. Könnte die feste Zellwand bei der Orientierung des wachsenden Keims von Bedeutung sein? Wechselwirkungen zwischen den Zellen spielen eine wichtige Rolle. Die ersten beteiligten Gene sind identifiziert, doch Jürgens bleibt vorsichtig. „Sie müssen tatsächlich Zellbiologie betreiben, ganz genau hinschauen, was passiert.“ Legospielen allein reicht eben nicht aus.