Schluß mit Meisterwerken

Das Theatertreffen hat sich als „Leistungsschau“ entbehrlich gemacht. Als Werkstatt mit Themenschwerpunkten wäre es wichtig  ■ Von Dirk Nümann

Wenn das Theatertreffen abgeschafft würde, wäre das ein noch viel stärkeres negatives Fanal als die Schließung des Schiller Theaters.“ Das sagt Ulrich Eckhardt, der Intendant der Berliner Festspiele.

Der Mann nimmt seine Arbeit wichtig. Immerhin hieß es bei der Schließung des Schiller Theaters, sie verursache „eine katastrophale Signalwirkung für das deutsche Theater überhaupt, für das Berliner Theater insbesondere.“ (Müller, Zadek & Co.) Und nun kommt es womöglich noch ärger.

Merkwürdig ist nur, daß von der prognostizierten katastrophalen Signalwirkung bisher kaum etwas zu spüren war. Niemand der Kämpfer und Resolutionäre gegen den „Schiller-Tod“ weint diesem Theater heute noch eine zweite Träne nach. Zyniker meinen sogar, schlechte Theater gebe es immer noch zu viel in Berlin. Feinfühliger formuliert: Das Schiller Theater hatte sich in den letzten Spielzeiten entbehrlich gemacht. Wie gut, daß das Theatertreffen unentbehrlich ist. Oder ist es das nicht?

„Das Theatertreffen hat nicht Theatergeschichte geschrieben“, behauptet nicht etwa ein Feind des Theatertreffens aus Bonn, sondern Eckhardt selbst, 1988 in einer von ihm mit herausgegebenen Geschichte des Theatertreffens. Doch die zaghafte Kritik äußert er nur, um heftiger Kritik vorzubeugen; ein tränenrührender Appell beschließt den Aufsatz: „Die 25 Jahre alte Institution des Theatertreffens Berlin ist uns, dem Publikum wie den Theatermachern, Kritikern und Organisatoren, zur behutsamen, pfleglichen Behandlung und Weiterführung anvertraut.“

250 Jahre, nein 25 Jahre muß es natürlich heißen. Das Theatertreffen wurde ja erst 1964 eingeführt und hieß damals „Theaterwettbewerb“, aber das soll uns hier nicht weiter bekümmern; ebensowenig, daß es „sichtbar gemachte Deutschland-Politik“ war – laut dem konservativen Kritiker und Juror Rolf Michaelis. Bekümmern sollte indes die Wortwahl Eckhardts: Wer von einer „behutsamen, pfleglichen Behandlung“ des Theatertreffens redet, verrät, daß es 1988 nicht einer fünfundzwanzigjährigen Frau glich, sondern einer gebrechlichen alten Dame, über deren Zipperlein man in der Öffentlichkeit schweigen sollte. Seid doch froh, daß sie noch unter uns weilt.

Gebrechlich war das Theatertreffen gleichwohl nicht erst 1988; es ist schon klapprig zur Welt gekommmen. So ziemlich alles, was das Theatertreffen zum Theatertreffen macht (der Ort, die Anzahl der Einladungen, die Auswahlkriterien, die Anzahl der Juroren) wurde regelmäßig in Frage gestellt; nur das Theatertreffen an sich nicht. Man dachte wohl: Wenn das Theatertreffen dem Theater auch nicht viel nützt, so schadet es wohl auch nicht viel.

Daß das Theatertreffen wenig nützt, daß vom Festival gegenwärtig keine Impulse auf die übrige Theaterwelt ausgehen, bezweifelt ernsthaft kaum jemand. Um so überraschender, von der Berliner Kulturverwaltung zu hören, es sei „zentraler Bestandteil des deutschen Theaterlebens“: Das klingt immerhin hübsch, doch verrät die Vokabel „Bestand“, daß es hier zuerst um Besitzstandswahrung geht: Berlin besitzt gewissermaßen das Theatertreffen und will es nicht hergeben. Und jegliche inhaltliche Auseinandersetzung soll so im Nebel der großen Phrase verschwinden.

Dennoch beginnt das Theatertreffen regelmäßig mit einer Grundsatzdebatte in den Medien, in der stets die Reformfraktion siegt. Fraglos ist es kein „funkelndes Kernstück“ der „kulturellen Jahresplanung“ von Theaterleuten, wie der Tagesspiegel soeben theatertreffentrunken jubelte. Es ist auch kein „Arbeits- und Begegnungsfestival“, sondern gleicht eher einer „Börse, an der Namen gehandelt werden – nicht aber Auseinandersetzung stattfindet. Es ist mehr Markt als Kultur“. So formulierten es jedenfalls 1980 in ihrer fundamentalen Theatertreffen-Kritik die Regisseure und Intendanten Flimm, Peymann, Schitthelm, Zadek, Steckel, Rudolph und Wendt.

Aber hat es nicht, wie jetzt Günther Grack behauptet, „in den siebziger Jahren den Aufbruch des Regietheaters zu neuen Ufern geführt“? Nein, da winkte selbst Intendant Eckhardt ab: „Es kann nur eingeschränkt für die Durchsetzung des Regietheaters in Anspruch genommen werden“ (1988).

Doch derartige Kritik am Theatertreffen zielt auf Reformen. Man könnte auch grundsätzlich fragen, ob etwa Günther Grack recht hat mit seinem Ausruf: „Das große Ensemble deutscher Sprache – einmal im Jahr braucht es eine Heimat.“ Das klingt nicht nur verräterisch schwülstig, sondern ist reaktionär: Habe das Theatertreffen früher funktioniert als „ein Brückenschlag übers rote Meer“, so soll es heute offenbar dazu dienen, die „Kulturnation“ zu vereinen: „Ein Forum wider Kleinstaaterei und Föderalismus“. „Leistungsschauen“, die „wie die olympischen Spiele nötig sind, um neue Standards zu setzen“ (Tagesspiegel). Neue Standards im Anabolika- beziehungsweise Subventions- Verbrauch? In der Vermarktung von Großereignissen? „Schauspielkunst deutscher Sprache“, die sich auch gerne in die antike Tradition dramatischer Wettspiele stellt?

Natürlich wäre eine solche Argumentation für das Theatertreffen chauvinistisch und verkennte zudem die Stärke des dezentralen Systems: Theater ist ein lokales Ereignis. Seine Heimat ist die Provinz. Die größte Leistung eines Stadttheaters besteht nicht darin, für die Hauptstadt, für die Jury des Theatertreffens zu spielen, sondern für sein lokales Publikum – es zu erziehen, herauszufordern, zu unterhalten, zu provozieren. Eben diese Leistung bleibt beim Theatertreffen unberücksichtigt: Welche Folgen das hat, sah man im letzten Jahr. Eine lokal erfolgreiche Inszenierung aus Schwerin wurde als zu „provinziell“ abgestempelt, das Burgtheater aus Wien indessen gefeiert.

Das dezentrale deutsche Theater braucht kein Ersatzzentrum; aber vielleicht braucht die Theaterhauptstadt Berlin, die ehemalige Mauerstadt, die Möchtegern- Metropole einen „Glanzpunkt“? Ein „Schmuckstück“ (Tagesspiegel), mit dem man prahlen kann wie mit einem Stadtschloß? Letztlich handelt es sich doch nur um Reklame – auch wenn das Berliner Publikum zweifellos davon profitiert. Kann das die Funktion eines Theatertreffens sein?

Doch wohl nicht. Deswegen: Das Theatertreffen ist, so wie es ist, entbehrlich. Fände es 1996 nicht statt, die Folgen wären für die Theaterszene nicht im mindesten so „verheerend“ wie die Auswirkungen der entfallenen Baseball- Saison für die Amerikaner. Doch vielleicht ist ja noch Zeit, das Theatertreffen unentbehrlich, oder zumindest: nicht ganz so entbehrlich zu machen. Dazu müßte man es allerdings grundlegend verändern, Eckhardtsche „Detailverbesserungen“ genügen nicht.

Statt einer bunten und zufälligen Parade der „bemerkenswertesten Inszenierungen“ der Saison sollten Aufführungen unter thematischen und dramaturgischen Gesichtspunkten ausgewählt werden. Dann sähe man nicht das neueste von PeymannBrethCastorfMarthalerGiesingWilson, sondern alle bemerkenswerten Inszenierungen, die versuchen, etwa den Krieg auf dem Balkan zu thematisieren: „Krieg im Theater“. Oder ein Theatertreffen versammelte Regiearbeiten unter dem Motto „Barlach spielen“, „Boulevard spielen“ etc. Oder man sähe Inszenierungen unter dem Aspekt „Theater und bildende Kunst“ oder „Die Kunst der Provokation“ oder „Zeit auf dem Theater“ ...

Eine solche themenbezogene Auswahl müßte auch nicht von einer neun- oder siebenköpfigen Jury gefällt werden. Es reichte ein künstlerischer Direktor oder eine Direktorin, der oder die aus dem Angebot der Spielzeit das Thema wählt. Das muß nicht zu einer „Provinzialisierung“ (Günther Grack) führen – Gegenbeispiele sind das Festival „Theater der Welt“ oder die „documenta“. Beide Veranstaltungen belegen auch, daß die Auswahl nicht unbedingt Sache der Kritik zu sein hat. Rezensenten, die in ihren Medien bestimmte Richtungen ohnehin protegieren, müssen diese nicht auch noch beim Theatertreffen herausloben.

Solch ein Festival müßte auch nicht unbedingt in Berlin stattfinden. So unterversorgt ist man hier nicht, wenn auch künstlerische Diät angesagt ist. Warum ein Fehlen des Theatertreffens der „deutschen Haupstadt Schaden“ zufügen würde, ist nicht nachvollziehbar. Vielleicht könnten die Standorte Dessau oder Braunschweig dem Theatertreffen neue Impulse geben.

Langfristig wird das Theatertreffen nur gesichert sein, wenn es seine Funktion wandelt: Wenn es nicht Leistungsshow und Markt ist, sondern Theaterwerkstatt; nicht Meisterwerke präsentiert, sondern Theaterarbeit leistet. Bedauerlich wäre, wenn das Theatertreffen nur den „Glanz des Juwels“ ausstrahlte: Ein Schmuckstück verliert man nicht gern – aber man braucht es nicht wirklich.