Keine Geheimpläne für den Balkan

Die Briten wehren sich gegen den Vorwurf, in Bosnien an die Eindämmung des deutschen Einflusses zu denken / Das Kriegsende ist wichtiger als die Frage nach Siegern und Verlierern  ■ Von Grahame Lucas

Vor einigen Wochen sah sich das Foreign Office veranlaßt, Staatsministerin Baronin Lynda Chalker höchstpersönlich nach Bonn zu schicken. Im Gepäck: ein vom britischen Presseamt gedrehtes Video über den Balkan-Einsatz der Briten. Der Film sollte widerlegen, was einige deutsche Medien, allen voran Die Welt, hartnäckig behaupten: daß London aus machtpolitischen Gründen ein Großserbien retten wolle. Damit wird den Briten unterstellt, sie versuchten ein Gegengewicht zu Kroatien zu bilden, das unter deutschen Einfluß geraten sei. – „Alles Unsinn“, meint auch der Chefberater der britischen Vertretung in Bonn, John Sheperd. Botschafter Sir Nigel Broomfield sah sich zu Gegendarstellungen gezwungen. Mit mäßigem Erfolg. „Wenn Menschen ein Vorurteil im Kopf haben“, klagte Lady Chalker bei ihrem Bonn-Besuch, „dann schauen sie nicht mehr auf die Tatsachen.“ Rückhalt bekommt die Major-Regierung von Experten wie dem britischen Historiker Jaspar Ridley, der den Vorwurf einer proserbischen Politik für wenig fundiert hält. Mit klassischem Understatement weist er auf die traditionelle Angst vor Rußland hin. London könne kein Interesse daran haben, den russenfreundlichen Serben mehr Einfluß einzuräumen: „Ein Serbien als Alliierter Rußlands wäre sicherlich nicht angenehm.“

Die serbische Politik der ethnischen Säuberungen hat auch in Großbritannien eine öffentliche Empörung erzeugt, die der Regierung wenig Spielraum für Zugeständnisse an die Serben läßt. Außerdem ist London kaum an einer Schwächung der Muslime gelegen. Zwar ist man auch an der Themse über die Ausbreitung des islamischen Fundamentalismus besorgt, schon allein wegen der Auswirkungen auf das soziale Klima auf der Insel. Aber mehr noch fürchtet London, sich neue Probleme mit der islamischen Welt einzuhandeln. Zyniker erinnern daran, daß erst der Fall Rushdie ausgestanden werden müsse.

Was ist also dran an den Vorwürfen? Gibt es eine geheime Agenda in der britischen Balkan- Politik, die allen öffentlichen Bekundungen zum Trotz in erster Linie auf die Eindämmung des deutschen Einflusses zielt? Die Labour-Opposition winkt nur müde ab.

Solche Überlegungen gingen von einer völlig falschen Einschätzung der Major-Regierung aus, meint ein Parteisprecher. Die Regierung sei nach 15 Jahren im Amt total erschöpft und ausgelaugt und kämpfe nur noch ums nackte Überleben. In der Außenpolitik habe sie längst aufgehört zu agieren, sie reagiere nur noch.

Zwar räumen auch Konservative hinter vorgehaltener Hand ein, daß in einigen Kreisen nach wie vor die Angst vor der Dominanz der Deutschen in Europa geschürt werde. Aber die seien hoffnungslos in der Minderheit und ohne Einfluß. Lediglich der Vorwurf an den früheren deutschen Außenminister Genscher, mit massivem diplomatischem Druck die voreilige Anerkennung Sloweniens, Kroatiens und Bosniens betrieben zu haben, taucht immer wieder auf – von Labour-Abgeordneten wie von Tories. Als es nach der Anerkennung darum gegangen sei, die Scherben zu kitten, klagt ein Labour-Sprecher, da habe sich Deutschland mit seinem moralischen Anspruch davongemacht.

Nur die Liberaldemokraten halten ihrem Parteifreund Genscher weiter die Stange. Ihrer Ansicht nach war der Krieg im ehemaligen Jugoslawien, Anerkennung hin oder her, sowieso unvermeidlich. In Großbritannien wird der ganze Krieg um Bosnien aus größerer Entfernung betrachtet, und da sind sich Regierung und Oppositionsparteien weitgehend einig, daß ihr Land auf dem Balkan genau zwei Ziele habe: einmal zur Lösung des Konfliktes beizutragen, soweit das ohne militärische Abenteuer möglich ist, und zum anderen humanitäre Hilfe zu leisten.

Mit beiden Zielen sehen sich die Briten in der Bosnien-Kontaktgruppe, in der auch Frankreich, Rußland, die USA und Deutschland vertreten sind, voll und ganz eingebunden. Auf dem Tisch liege ein akzeptabler Friedensplan, der nur von den bosnischen Serben abgelehnt werde, heißt es aus allen Fraktionen fast gleichlautend. Nicht Großbritannien, sondern die kriegführenden Parteien entschieden über den Frieden. Jeder Versuch, sich stärker als bisher einzumischen, sei zu gefährlich.

Der außenpolitische Sprecher der Liberaldemokraten im Unterhaus, Menzies Campbell, kreidet der Major-Regierung lediglich an, daß sie nicht mehr getan habe, um das UN-Embargo gegen Serbien und Bosnien durchzusetzen. Nuancen, die vor allem beleuchten, wie sehr sich die Auffassungen sonst decken. Nicht eine geheime Agenda sei für die weiche Haltung Londons gegenüber serbischen Forderungen verantwortlich, meint Campbell, sondern die seit 1992 sich verändernde politische Realität in Bosnien.

Die britische Balkan-Politik wird geleitet vom Prinzip, auf keinen Fall in den militärischen Konflikt hineingezogen zu werden. Wichtig ist für London vor allem, daß die humanitäre Hilfe aufrechterhalten wird. Wie der Krieg ausgehen wird, wer Gewinner, wer Verlierer sein wird, das sei von außen kaum zu beeinflussen. Britische Diplomaten betonen deshalb auch, daß eine Aufhebung des UN-Waffenembargos unweigerlich zum Abzug der britischen Bodentruppen und zum Ende der humanitären Hilfe führen würde.

Für diesen Fall erwarten die Briten von Deutschland einen größeren militärischen Beitrag zum Schutz der abziehenden Truppen. Baronin Chalker erklärte in Bonn, daß darüber selbstverständlich die Bundesregierung zu entscheiden habe. Der liberale Campbell nimmt weniger Rücksichten und forderte unverblümt den Einsatz deutscher Tornados: Es sei im Interesse Europas, wenn Deutschland einen Platz in friedenserhaltenden Missionen der Vereinten Nationen einnehme.

Der britische Journalist Grahame Lucas lebt und arbeitet in Bonn