Dann begann die Marcomanie

„Tierra y Libertad“: Zwei Sammelbände zum Chiapas-Aufstand in Mexiko, in deren Mittelpunkt der Medienstar und Zapatisten-Anführer Subcomandante Marcos steht  ■ Von Klaus Jetz

Noch immer fordern die Indios in Chiapas Land und Freiheit, „Tierra y Libertad“. Auch all die Jahrzehnte nach Ausbruch der mexikanischen Revolution sind die ihnen gemachten Versprechungen unerfüllt geblieben. Chiapas ähnelt in vielerlei Hinsicht eher dem Nachbarland Guatemala, historisch und kulturell betrachtet gehört dieser mexikanische Bundesstaat zu Zentralamerika. In ihm herrschen Zustände, als habe die erste Revolution des 20. Jahrhunderts nie stattgefunden. Noch immer unterdrückt eine oligarchische Clique jeden Ansatz einer Landreform. Mit Willkür und Gewalt gehen Todesschwadronen, Bundespolizei und Militär seit Jahren gegen friedlich demonstrierende Indiobauern vor. Die Jahresberichte von amnesty international sprechen von spurlos Verschwundenen, systematischen Folterungen und extralegalen Hinrichtungen. Zustände eben, die denen im benahbarten Guatemala durchaus ähneln.

Der verzweifelte Aufstand vom 1. Januar 1994, diese „erste Revolution des 21. Jahrhunderts“, war also vorauszusehen. Überraschend war dann doch die Brutalität, mit der die Bundesarmee gegen die Aufständischen vorging. Entsetzt protestierten selbst europäische Regierungsvertreter, sonst eher in diplomatischer Zurückhaltung geübt, gegen dieses Vorgehen, das so gar nicht in das Bild des modernen Mexiko passen wollte. Schließlich waren die Nafta-Verhandlungen gerade abgeschlossen und vom US-amerikanischen Senat gebilligt worden, und die Regierung Salinas versprach vollmundig, Mexiko ins Lager der „Ersten Welt“ zu führen.

Gerade wegen dieser Ungleichzeitigkeit starrten viele MexikanerInnen damals ungläubig auf ihren Fernseher, als sie die Bilder aus dem entfernten, von Indios besetzten San Cristobal sahen. Nicht weniger überrascht war man in Europa. Und auch die Solidaritätsbewegung wußte nicht so recht, wie sie mit diesem antiquiert wirkenden Aufstand der Zapatistas umgehen sollte. Schließlich hatte man sich in Zentralamerika gerade von der Revolution verabschiedet.

Zwei reader zum Thema, 1994 erschienen, geben Einblick in dieses Erstaunen. Das vom dem Schweizer Wochenzeitung (WoZ)- Redakteur Andreas Simmen herausgegebene Buch erschien bereits ein halbes Jahr nach Beginn des Aufstands. Folglich versteht es sich als Chronik der Ereignisse bis April 1994. Neben den poetischen Kommuniqués des „subcomandante“ Marcos vereint das Buch überwiegend Stimmen aus Mexiko und verzichtet auf die Zusammenfassung von Korrespondentenberichten. Ausnahme: die Beiträge der taz- und WoZ-Autorin Anne Huffschmnid, die allerdings auch in der Kulturredaktion der mexikanischen Tageszeitung La Jornada arbeitet.

Mit Elena Poniatowska und Paco Ingnacio Taibo II legen auch zwei Schriftsteller Zeugnis ab von der Irritation, die sich im Januar unter den mexikanischen Intellektuellen breitmachte. Der in Spanien geborene Taibo II gesteht, tagelang vor dem Fernseher ausgeharrt zu haben, begierig „zwischen den Zeilen lesend, Zwischentöne hörend und Bilder auswertend, ohne dem Sprecher zuzuhören“. Auch die Essaysistin Paniatowska fällt aus allen Wolken und gibt sich und anderen gleichgültigen Hauptstädtern eine Mitschuld an den Ereignissen: „Wir werden unseres eigenen Vergessens gewahr. Wir waren ja so zufrieden, es war alles so richtig hübsch, viel besser als in den Ländern weiter südlich.“

Die mexikanischen Intellektuellen erwachen und stellen sich geschlossen auf die Seite der Zapatistas — mit Ausnahme eines Autors wie Octavio Paz, der von einem „modernen Mexiko“ träumt. Für ihn stellt der Aufstand einen Rückfall in die revolutionären Wirren der 20er Jahre dar.

Umfangreicher und aktueller, weil erst im Dezember 1994 erschienen, ist das Lesebuch „Ya basta!“, das von der Redaktionsgruppe „Topitas“ herausgegeben wurde.

Hinter diesen „Maulwürfen“, „diesem nützlichen Tier, das den Boden locker hält, damit etwas sprießen kann“, verbirgt sich eine Gruppe von JournalistInnen aus der Lateinamerika-Soliszene. Subcomandante Marcos hätte eigentlich als Autor zeichnen müssen, da das ganze Buch ziemlich Marcos- lastig ist. Die Topitas rühmen die Poesie und den Witz in den Kommuniqués des Sprechers des „Zapastischen Volksheers zur nationalen Befreiung“ (EZLN), auch sie sind dem Charme der Augen hinter der Skimütze erlegen. Im Vorwort sprechen sie gar von Marcomanie, sinnieren über die Nasenlänge des Sub und darüber, ob er denn wohl schwul sei.

Die Marcos-Texte sind in ihrer Sprache eindeutig, vielleicht auch, weil der EZLN-Sprecher jahrelang als Journalist in der Bundeshauptstadt gearbeitet hat, bevor er in die Berge ging. In vielem erinnern sie an Castros „La historia me absolvera“. Die sozialen und politischen Zustände werden darin — sicherlich luzider als bei Castro — angeklagt, um den verzweifelten Aufstand der Indios in Chiapas zu verantworten.

Die Texte wollen den „ersten Aufstand des 21. Jahrhunderts“ rechtfertigen, der sich jedoch zugleich gegen die Nafta-Modernisierung Mexikos richtet. Zitat Marcos: „Etwas ist aufgebrochen in diesem Jahr, nicht nur das falsche Bild der Moderne, das der Neoliberalismus uns verkauft hat, nicht nur die Falschheit der Regierungsprojekte, der institutionellen Almosen, nicht nur das ungerechte Vergessen des Vaterlandes gegenüber seinen ursprünglichen Bewohnern, auch das rigide Schema einer Linken, die darin verhaftet ist, von und in der Vergangenheit zu leben.“

Im medial geübten Marcos, mit oder ohne Maske, haben — nicht nur — die Indios den perfekten Sprecher gefunden. Was Wunder also, daß die AutorInnen von „Ya basta!“ auf ihr Honorar verzichten und es an den Medienfonds der EZLN weiterleiten?

Andreas Simmen (Hg), „Mexiko. Aufstand in Chiapas“. Edition ID Archiv, Berlin/Amsterdam 1994, 133 S., 15 DM

Topitas (Hg.), „Ya basta! Der Aufstand der Zapatistas“. Verlag Libertäre Assoziation, Hamburg 1994, 364 S., 28DM