Pädagogik im Kaisermarsch

■ Muckefuckdrill: Schulgeschichtliche Sammlung ermöglicht „Lernen wie 1900“

„Hände falten, Schnabel halten, Ohren spitzen, gerade sitzen“ – solche Anweisungen sind heutigen SchülerInnen fremder als die Botschaften von Alien. Doch die acht Mädchen und zehn Jungen des dritten Jahrgangs der Grundschule an der Schmidtstraße steigen neugierig ein in die Zeitmaschine der Schulgeschichtlichen Sammlung. Einen ganzen Morgen erleben sie „Unterricht wie um 1900“.

Für diesen Tag haben sie sich neue alte Namen gegeben. Otto, Fritz und Franz, Grete, Hanna und Gustav, verraten selbstgefertigte Namensschilder. Schließlich ist Frau Vossler heute auch das „Fäulein Lehrerin“. Nicht genug: Neben dem Namen muß auch das Outfit abgelegt werden. Die Knaben steigen in Matrosenhemden oder kleine Jacken aus derbem Stoff, die Mädchen haben die langen Haare zu Zöpfen gebunden und ziehen gestärkte Schürzen über das züchtige Kleidchen mit weißem Kragen. „Ja, ja“ kommentiert Otto Stendle, Mitarbeiter der Schulgeschichtlichen Sammlung, „da gab's keine Turnschuhe, Stirnbänder oder diese bunten Uhren.“

Sein Tonfall riecht nach Bohnerwachs, es scheint angeraten, folgsam zu sein. Die Kinder schieben sich hinter ihm durch den naturwissenschaftlichen Raum in die Bibliothek, wo allein 15.000 Bücher den PädagogInnen zur Vorbereitung dienten. „Müssen Sie das alles durchlesen“, fragt Grete ganz ergriffen. Ehrfürchtig traben sie hinter dem Herrn in „ihr“ Klassenzimmer. Auf dem Flur scheinen sich die gebrochenen Augen ausgestopfter Tiere an die Fersen der Kinder zu heften, die Gipsbüste von August Lüben (1858), dem ersten Direktor des Bremer Lehrerseminars, ist auch nicht ohne. Diese grünbraunrosa Wandtafeln, auf denen die Folgen der Taillenschnürung dargestellt sind, gar der auseinandernehmbare Torso für den Biounterricht... Oh schaurigschöner Grusel!

Dem Horrorkabinett entkommen, drücken sich die Kinder in die Holzbänke. „Die Jungs haben viel mehr Platz“, beklagt sich Grete zu Recht. Ihre Widersacher müssen daraufhin zusammenrücken, auch sie sollen ein Gefühl für die Enge einer Jahrhundertwendeklasse mit 50 bis 60 SchülerInnen kriegen. Bei den Knaben klappt die Revierbestimmung nicht ganz ohne den Einsatz von Ellbogen und Füßen, doch schließlich wird es mucksmäuschenstill.

Otto Stendle hat die Schiefertafeln aus dem knarzenden Schrank geholt und droht vom Katheder runter: „Es geht alles nach Kommando! Bei ,eins' die Tafel anfassen, bei ,zwei' die Tafel vor die Brust klemmen, bei ,drei' die Tafel unter den Tisch schieben, aber leise!“ Ist das noch Spiel? Die Kids sind iriitiert und suchen mit den Augen Frau Vossler. Doch die steht stumm da mit ihrem Rohrstock, der so gar nicht zu ihr paßt. Am besten macht man, was der da vorne sagt. „Eins, zwei, drei“, lautet die knappe militärische Vorgabe, der die SchülerInnen ohne Murren gehorchen.

Sie scheinen erleichtert, als Otto der Große das Gelände dem „Fräulein Lehrerin“ überläßt. Aber was will die denn jetzt? Hände vorzeigen? „Au, Scheiße“, grunzt Theo, doch niemand kriegt was auf die Finger. Stattdessen müssen sie im Chor und einzeln Sätze nachsprechen: „Immer sauber und ganz rein, muß die Schiefertafel sein.“ Die Pädagogik im Kaisermarschrhythmus funktioniert. Brav melden sich die Kleinen, wenn sie was sagen wollen, brav krakeln sie dutzende deutscher I-s auf die Tafeln. „Auf, ab, auf und Pünktchen drauf“, diktiert Fräulein Vossler, „das schöne Schreiben ist von Nöten“. Allein den Fritz erreicht das nicht, er muß dafür, Gesicht zur Wand, in die Ecke.

Die Schulbimmel läutet die Pause ein. Muckefuck und Brote mit Schmalz oder Rübenkraut machen die Runde. Na ja, kann man mal essen. Interessanter sind die alten deutschen Schriftproben nach dem „Bremer Ductus“, deren grazile Ober- und Unterlängen die Kleinen, besonders die Mädchen, mit hängender Zunge nachmalen. Sie scheinen sich im Schutz der strengen Ordnung wohlzufühlen und genießen es, wenn der zurückgekehrte Otto die Jungens zurechtweist, die sämtliche Klötze für den Zeichenunterricht eingeheimst haben.

Als die Glocke den Schulschluß markiert, fliegen die Kurzen nicht auseinander, sondern üben sich in stiller Fron. Hat es so viel Spaß gemacht? „Ja,“ beteuert Kurt und ergänzt: „Aber nicht für immer.“ Warum? „Es ist gut, daß Frau Vossler nicht immer so streng ist wie heute.“ Aber gespannt sind sie trotzdem darauf, was ihre Unterrichtseinheit „Leben früher und heute“ nach diesem ersten Teil zukünftig für sie bereithält. Dora Hartmann

Die Schulgeschichtliche Sammlung bietet den Unterricht noch bis zum Herbst an. Die Ausstellung ist von Di-Fr, 10-17 Uhr und So von 11-16 Uhr geöffnet.