Nur die Brunnenpisser bleiben

Ein Jahr nach Olympia kämpft Lillehammer mit seinen finanziellen Verlusten, hat aber immerhin nun „einen Platz auf der Landkarte“  ■ Aus Lillehammer Reinhard Wolff

Das Ei gibt es noch, jene eiförmige Weltkugel, die sich bei der Eröffnungsfeier öffnete und eine metallgittrige Friedenstaube hydraulisch hochschweben ließ. „Welcome to the Olympic egg. Das Olympische Ei. L'×uf Olympique. Fifteen kroner, please.“ Als eine der Touristenattraktionen der Ex-Olympiastadt Lillehammer steht es in der Håkons-Hall, und mithin an einem Ort, an dem sich weder um das Ei herum noch sonst allzuviel tut. Die letzte ausverkaufte Veranstaltung hier war das Olympia-Eishockeyfinale am 27. Februar letzten Jahres: Schweden – Kanada, 8:7, Sudden death.

Wer sollte sie jetzt auch noch füllen? Die 9.000 ZuschauerInnenplätze, 13 Garderoben, vier Squashbahnen? Budget für 1994: 4,5 Millionen Kronen Verlust. Geplantes Budget für 1995: 4,5 Millionen Kronen Verlust. 9,2 Milliarden Kronen, rund zwei Milliarden Mark, hat sich Norwegen die Spiele kosten lassen. Nur die Hälfte ist an Einnahmen zurückgeflossen. Und die riesigen Sporthallen, Rodelbahnen, Sprungschanzen werden in den nächsten Jahren Geld kosten, aber keines einbringen. Im Olympiadorf sind immerhin ein Altenheim und ein Kindergarten eingezogen, im riesigen TV- Zentrum verlieren sich einige Studenten der Filmhochschule. Doch das Pressezentrum hat noch keine Verwendung gefunden. Vielleicht soll hier ein Olympiamuseum eingerichtet werden. Irgendwann.

Neulich haben in Hunderfossen draußen auf der olympischen Bahn die Rodelweltmeisterschaften stattgefunden, und „kaum einer in Lillehammer hat's gemerkt“. (Süddeutsche Zeitung). Wo sich vor Jahresfrist Tausende einfanden, verloren sich heuer ein paar Zuschauer. Und im Kulturkalender der Stadt hatte man die Rodler mit einem Foto vom Skeleton angekündigt. Was nun zwar auch ein Wettbewerb ist, bei dem man auf einem Schlitten fährt, allerdings auf dem Bauch, nicht auf dem Rücken. Die Rodler jedenfalls, heißt es, waren ganz bitter enttäuscht, daß die schönen Tage Olympias unwiderruflich vergangen waren und sich nicht annährend neu beleben ließen.

Allerdings kann die Touristikbranche offenbar nicht klagen. Volle Betten werden derzeit in Hotels und Hütten rund um Lillehammer gemeldet. Die Lifte sind gut besetzt, die Loipen und Hänge voll. In der 26.000-Einwohner- Stadt Lillehammer selbst bleibt davon jedoch nicht viel hängen. In der Fußgängerzone und den Läden mischt sich kaum ein Tourist unter die Einheimischen, und in den Kneipen ist es abends so leer wie vor Olympia. „Man wird schon ein wenig wehmütig, denkt man an das große Fest vor einem Jahr“, sagt Petter hinter dem Tresen und gerät ins Sinnieren, „daß so gar nichts übriggeblieben ist. Außer Erinnerungen.“

„Brunnenpisser“ nennt man bei den Offiziellen solche Zweifler, die nicht einsehen wollen, daß Lillehammer ein für allemal durch die Olympiade aus dem Dornröschenschlaf erwacht ist und in diesen nun auch nicht mehr zurücksinken wird. „Ist nicht alles in der Stadt viel schöner geworden?“ Nein, offiziell ist Bürgermeister Audun Tron hochzufrieden. Auch wenn er nicht mehr vor einem Milliardenpublikum Olympia miteröffnen darf, sondern zuletzt gerade vor fünf Zuschauern Rodelmeisterschaften im Akebakkewald. Zufrieden, selbst wenn sich immer mehr die Stimmen häufen, Lillehammer verschenke die Chance, die man erhalten hatte. Der Chor der „Brunnenpisser“ erreichte zum Jahresjubiläum sogar ministerielles Niveau. Sport- und Kulturministerin Åse Kleveland machte in einer Fernsehdebatte klar, daß auch sie sich mehr an Ernte erwartet habe angesichts der Milliardeninvestitionen: Sie sei unzufrieden mit dem, was nach den Olympischen Spielen gelaufen sei. Und was denn eigentlich mit den umgerechnet rund hundert Millionen Mark geschehen sei, welche die Regierung nacholympisch zur Verfügung gestellt habe, gerade damit die Region nicht wieder in den Dornröschenschlaf versinke?

Sicher, Lillehammer darf sich jetzt einer topmodernen Infrastruktur rühmen, hat ausgezeichnete Verkehrsverbindungen, ein nagelneues Telefonnetz, eine Musterkläranlage und natürlich die ganzen neuen Sportstätten. Doch politisch war das Ja für den Olympiaklimmzug eigentlich mit dem Argument gekauft worden, die im Öl-Norwegen abgehängte östliche Region des Landes könnte damit endlich wieder Anschluß finden. Aber die Frage nach neuen Arbeitsplätzen löst verlegenes Schweigen aus. Die meisten scheinen bei der Bürokratie und den Beratungsfirmen entstanden zu sein, welche die Zukunft Lillehammers planen. Eine Vielzahl von Firmen mit zusammen über einhundert Beschäftigten ernährt sich tatsächlich allein von der Suche nach Antworten auf die Frage, wozu die nacholympischen Millionen am besten für Lillehammers Zukunft investiert werden könnten. Und haben über diesem Nachgrübeln bereits ein Viertel der Gelder verbraten.

Aus diesem Satirestoff hat zumindest die lokale Kabarettrevue mit ihrem neuen Programm „Der Resthaufen“ Kapital schlagen können. Einleitungsnummer ist ein altes Kinderlied: „Soviel Geld habe ich bekommen, soviel habe ich weggeworfen, was habe ich noch?“ Eine einzige Firma hat tatsächlich das geschafft, was für alle der Sportanlagen vorgesehen war: Mit den Zinsen der Staatsgelder den Unterschuß zu decken. Hans Erik Stadshaug, der die Olympia- Anlagen von Hamar verwaltet, sagt: „Ich glaube, wir machen einen vernünftigen Job.“ Dort verschwendet man als einziger der Sportstättenverwalter das Geld nicht vorwiegend für Verwaltungskosten. Aber hat andererseits auch noch keine Zukunftsperspektive zu bieten.

Kein Wunder, daß schon davon gesprochen wird, man brauche bald erneut Olympische Spiele, wenigstens aber bitte doch eine alpine Weltmeisterschaft, sollte nicht zuviel an Kapital den Bach hinuntergehen. Von einer Wiederholung dürften vor allem Geschäftsleute wie Ørnulf Børke träumen, der einer der Gewinner der Lillehammer-Spiele ist. Mehr durch Zufall ans Geschäft gekommen, hat er mit seiner Firma nicht weniger als 18 Millionen Buttons „Made in Taiwan“ verkauft, damit 210 Millionen Kronen umgesetzt und unter dem Strich 20 Millionen Kronen verdient. Die kann der 38jährige sich für die nächsten Jahre nun in Ruhe einteilen.

Andere haben das Geld für die sündhaft teure Vermietung ihrer Häuser und Wohnungen immerhin für eine Urlaubsreise oder ein neues Auto genutzt. Gehen nach dem Fest wieder ihrem normalen Job nach, wie Rohrleger Morten, der während der Olympia-Wochen seinen Laden zu einer Kneipe umgebaut hatte, jetzt statt Pils aber wieder Wasserleitungsdichtungen verkauft: „Auf jeden Fall war's schön, und Lillehammer hat nun einen Platz auf der Landkarte bekommen.“ Milliarden Menschen hätten zumindest ein Stück der tollen Spiele am Fernseher gesehen. Und nur nach Geld fragen müsse man ja auch nicht dauernd.

Die GeldgeberInnen in Oslo, die – angeblich im Namen der Millionen SteuerzahlerInnen – doch so penetrant danach fragen, meinen allerdings, daß da aus Schlafmützigkeit zuviel Kapital verschleudert werde. Von Geschäftsleuten, die es schon für einen Erfolg halten, wenn zum einjährigen Jubiläum wieder T-Shirts versteigert werden. Diesmal mit dem Aufdruck: „Ein Jahr danach“. Von PolitikerInnen, die sich nun ein Jahr auf der Ehre und den Lorbeeren ausgeruht hätten. Aber warum sollte es Lillehammer besser gehen als anderen, längst wieder vergessenen Olympia-Orten? Die nächste Olympiastadt wartet ja auch auf Aufmerksamkeit.

So nimmt man 200 Kilometer nördlich von Oslo halb und halb endgültig Abschied von dem letzten Rest Olympia. Ein Jahr danach. Auch ganz buchstäblich: Olympia-Socken, Olympia-Rucksäcke, Olympia-Mützen, Olympia- Pantoffeln, Olympia-Thermosflaschen: Alles gibt es noch. Zum halben Preis eben. Dazu den üblichen Olympia-Kitsch, mit einer Ausnahme: die kleinen Trolle, die urplötzlich bei der Eröffnungsfeier aus dem Boden auftauchten. Sie sind nirgends mehr zu sehen. Und Ole Gunnar Fidjestol, der Skispringer mit der Fackel in der Hand, der bei der Generalprobe so unglücklich gestürzt war, daß seinem Reservemann Stein Gruben die Ehre des Schlußsprungs zuteil wurde, hat die Hoffnung auf ein Fackelsprungangebot aus Nagano für 1998 aufgegeben. Und das Skispringen auch. Er zumindest glaubt nicht an ein „Olympia II“.