Monatliche Ernte

■ Aus dem bunten Obstkorb der ARD wird das "Hörspiel des Monats" verlesen. Randbemerkungen von einer, die mithilft

Gibt es noch Medienjurys jenseits der Fernseh-„Grimmlins“? Es gibt. Zum Beispiel die dreiköpfige Hörspieljury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. Seit 1977 bricht sie monatlich über zwölf neue ARD-Produktionen den Stab und verleiht einer von ihnen das Prädikat „Hörspiel des Monats“. Zum Jahresende wird dann in den Gewinner- Fundus gegriffen und ein „Hörspiel des Jahres“ erwählt. War mir diese Einrichtung früher nur aus Pressetexten bekannt, bin ich nun ein Teil von ihr. Das bedeutet konkret, ein Jahr lang die monatliche Ernte der Hörspielredaktionen durchzuklauben und aus dem bunt gemischten Obstkorb ein Exemplar als „Alpha-Früchtchen“ zu prämieren. Da „lobende Erwähnungen“ und andere nette Auszeichnungs-Gesten nicht in der Satzung stehen, heißt das natürlich: Äpfel mit Birnen vergleichen.

Ein delikater Job. Denn wo viele Produktionen herausragend sind, muß unser kritisches Terzett befürchten, daß die Entscheidung im gegenwärtigen Gerangel um den Königsweg zum Erfolgsradio als programmpolitische Empfehlung mißverstanden wird. Und prompt erreicht mich – kaum daß der geniale Thriller „Der Mann, der zweimal lebte“ (NDR), als Januar-Preisträger vermeldet wurde, ein mildes Gemuffel: das sei ja schon wieder eine Komödie!

Antike Tragödien und ostdeutsche Dramen

Jedes Jahr stellt ein anderes Sendegebiet die Jury, wobei ein Hörspielchef auf diesem Terrain der Gastgeber ist. 1995 treffen wir uns im Berliner SFB, beschattet von der gefährlichen Zimmerpflanze in Manfred Mixners Büro. Dort kriegen wir, nach kurzer Einführung in unseren Handlungsspielraum, noch liebenswürdig Kaffee nebst Hanuta in die Hand gedrückt – und der Ring ist freigegeben. Brav haben wir Hausaufgaben gemacht. Uns durch antike Tragödien wie ostdeutsche Dramen gehört. Im rappig-opernhaften „Horatier“ (SWF), wo Klangschmied Heiner Goebbels sich wieder ein bißchen selbst zitiert. In „Unser lieber toller Hund“ (SFB), darin sich vielleicht zu viele Abgründe des heutigen Ost-Alltags auftun. In der „Letzten Instanz“ (ORB), einer Kunstkneipe – gleich Welt, ist klar –, wird der Niedergang eines Ostbürgers hyperrealistisch erlebt. Auch haben wir mit einem neuartig komischen „Sisyphos“ (SDR) die Götter geneckt, uns einem irischen Vater-Tochter-Konflikt (WDR) nicht entzogen, esoterisch „Weiße Schatten“ (HR) aus Norwegen gesehen und „Das schlechteste Hörspiel der Welt“ (Radio Bremen) als dramaturgische Etüde studiert.

Drei KritikerInnen, drei Geschmäcker

Kein Wunder, daß bei all der Vielfalt unser Kriterienproblem nicht leicht zu knacken war. Es wurde jedoch elegant gelöst – auch wenn leider in einem Fall die Einschätzung so konträr wie nur möglich lag. Hatte die umwerfend offene, poetische Produktion nach Else Lasker-Schülers letzter, als unaufführbar geltender Tragödie „Ich und Ich“ (BR) mein Herz schon in der dritten Spielminute gewonnen, scheiterte die Vergabe der Auszeichnung trotz feurigster Fürsprache. Denn: Unendlich verschieden sind die Geschmäcker, und meine Faszination verhallte unerhört an einem Jurymitglied...

Immerhin gab's bei meinem „Flop des Monats“ keinen Einspruch. Und weil „Friends Trophy“ (SR) noch eben so an einem ehrenwerten Radio-Versuch vorbeischlitterte, hier ein paar Worte mehr dazu. Ein offensichtlich selbstverliebtes Macher-Pärchen durfte Radio à la Dada spielen – und scheiterte, wie's schien, an Ideenarmut. Da muß ein überforderter Norm-Moderator locker sein, staubtrockene Live-Interviews über nichts kommentieren, während der „Autor“ das Ganze ohne Rhythmus und Witz mit rückwärtslaufender Musik koordiniert. Ein Schlüsselsatz beschwört, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk gingen die Ideen aus. Aber so schlecht, daß er zu Pseudohappenings greifen muß, steht es um ihn nun wirklich nicht!

Lange schlürften wir Kaffee, zerbröckelten wir Kekse: denn neben unserem späteren Champion lag noch eine Radiolesung nach Birger Sellins Text „Ich will kein inmich mehr sein“ (DLR) im Rennen. Die wichtigen, hochinteressanten Ausblicke des Autisten sind schlicht und angemessen umgesetzt – und das ist eine Rarität. Irgendwann entschieden wir uns dann für den bereits erwähnten Thriller. Vielleicht, weil einer von uns gern heimlich Raymond Chandler liest. Oder weil Fassbinders Geist durch den Raum schwebte, der geraten hatte, „die Probleme mit Unterhaltungswert“ aufzupeppen? Wie auch immer: „Der Mann, der zweimal lebte“ hat gesiegt. Die Februar-Runde kann beginnen... Gaby Hartel