Betroffenheit auf Kommando?

■ betr.: „Wir können es nicht wieder gutmachen, Herr Böing“, taz vom 27. 1. 95

[...] Ich finde es traurig, wenn man zu bestimmten Anlässen (in der Regel nur dann) wie KZ-Besuchen oder Jahrestagen wie 50 Jahre Auschwitz-Befreiung auf Kommando eine Betroffenheitsmiene aufsetzen soll. [...] Ich möchte damit keinesfalls das NS- Regime bagatellisieren, Gott behüte, aber ich muß ehrlich gestehen, daß ich mir mit meinen 22 Jahren den Schuh dieser Verbrechen einfach nicht anziehen möchte. Ich bin mir der historischen und moralischen Schuld Deutschlands sehr wohl bewußt, aber dennoch bin ich nicht bereit, tagein, tagaus auf Knien rutschend durch die Lande zu ziehen, demütig den Blick gesenkt und flehend: „Tut mir leid, ich bin Deutscher, dafür kann ich nicht!“

Und so dürfte es auch einigen Schülern ergangen sein, die feixend und herumalbernd durch das KZ gewandert sind (was ich persönlich auch nicht gutheiße). Außerdem spielt das Alter auch noch eine gewichtige Rolle. Das Grauen, das sich in Auschwitz zugetragen hat, ist nach 50 Jahren für die Menschen, die es nicht selbst erlebt haben, einfach nicht greifbar. Auch nicht für spätpubertäre Jugendliche, die mit sich selbst genug am Hals haben. Würde Böing die Fahrt in fünf Jahren mit derselben Gruppe wiederholen, würde er feststellen, daß sich die entsprechende Disziplin einstellen würde. Dirk Schulte, Soest