Heldinnen nach Plan

Die Frauenfiguren im Deutschunterricht der DDR standen für eine Ideologie statt für sich selbst – eine Sozialisation mit langfristigen Folgen.  ■ Von Brita Baume

„... Man kann der Frau nichts Unwürdigeres zumuten, als das unbezahlte Dienstmädchen des Mannes zu sein. ... Es gibt keine letzte gesellschaftliche Gleichberechtigung der Frau ohne die gleichberechtigte Einbeziehung der Frau ins Wirtschaftsleben.“ So sprach Otto Grotewohl 1950 vor der Provisorischen Volkskammer der DDR. Gerade die 50er Jahre waren in der DDR, mehr als die 60er, eine Zeit der sehr regen und interessanten Debatte zu diesem Thema. Die sogenannte Frauenfrage stand 1950 auf dem politischen Programm der SED. Bereits damals war klar, daß die Frauenfrage nicht in ihrer Komplexheit zur Debatte stand, sondern eine Vereinbarung angestrebt wurde, wie Grotewohl bei anderer Gelegenheit im selben Jahr hervorhob, „damit die Frau ihre Aufgabe als Bürgerin und Schaffende mit ihren Pflichten als Frau und Mutter vereinbaren kann“.

Für diese Emanzipationsideologie wurden auch Leitbilder präsentiert. Was den Männern Adolf Hennecke und Hans Garbe, waren den Frauen Frida Hockauf und Irmgard Richter, Aktivistinnen des ersten Fünfjahrplans. Aber bemerkenswerterweise erhielten lediglich die männlichen Aktivisten literarische Denkmale. Die Literatur hatte zu diesem Zeitpunkt das offizielle Motto „Held unserer Literatur sei der arbeitende Mensch“. Auf der 1. Bitterfelder Konferenz 1959 wurden die Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf einen engen Kontakt mit Arbeitern orientiert. Die 2. Bitterfelder Konferenz in den 60er Jahren empfahl engeren Kontakt zur Leitungsebene. Christa Wolfs Erzählung „Der geteilte Himmel“ von 1963 zum Beispiel war inspiriert von ihrem Aufenthalt im Waggonwerk Ammendorf. Die Hauptfigur Rita Seidel war eine Heldin, wie ich sie mir mit 14 Jahren wünschte. Solche Bücher aber gehörten nicht in den Schulliteraturkanon; die angedeuteten Widersprüche überstiegen das Konzept der „harmonischen Entwicklung“ der DDR-Jugend. Gefordert wurden Heldinnen nach Plan.

Die Frauengestalten aus meiner Schullektüre, die mir spontan einfallen, sind Effi Briest und die Wlassowa aus Gorkis „Mutter“, dann Brechts Frau Carrar. Bei der Diskussion der betreffenden Literatur ging es nie um die Frage der Lebensgeschichte der Frauen, sondern meist um darüberliegende ideologische Sachverhalte. Individualgeschichten wurden als Demonstrationsmaterial benutzt, um den Prozeß des Aufbaus des Sozialismus in der DDR zu veranschaulichen. Die literarischen Figuren blieben seltsam blutarm. Von Fontanes Roman „Effi Briest“ ist als abzufragendes Wissen letzten Endes nur das Gespräch zwischen Innstetten und Wallersdorff wichtig gewesen, in dem der Satz über Roswitha, die Haushälterin Effis, fällt: „Die ist uns über.“ Daraus waren diverse Schlußfolgerungen abzuleiten. Vom Buch über den schweren Weg der Wlassowa von einer gläubigen Frau zur Revolutionärin, die auf ihre alten Tage noch lesen und schreiben lernt, blieb die flammende Rede ihres Sohnes Pawel vor Gericht. Von Schillers „Kabale und Liebe“ blieb im Endeffekt nur die Kammerdienerszene, die wir wieder und wieder interpretieren sollten. Die Reihe ließe sich beliebig verlängern. Ein Blick in die Unterrichtshilfen für die Lehrerinnen und Lehrer verdeutlicht die angestrebte Linie. Im Literaturkanon von der 7. bis zur 12. Klasse fanden sich nur zwei Autorinnen, die mit umfangreicheren Texten, also nicht nur mit Lyrik, vertreten waren. Anna Seghers und Ruth Werner waren die Auserwählten – beide der älteren Generation zugehörig.

Die einseitige Orientierung auf ideologische Fragen, die sich in der Literaturwahl und in den vorgeschlagenen Interpretationsvarianten niederschlägt, hat eine angemessene Diskussion zur Frauenfrage verhindert. Es gab allerdings einen gewissen Spielraum für die Lehrerinnen und Lehrer, bei Werken, wo es sich anbot, darüber zu diskutieren. So wurden in der Zeitschrift Deutschunterricht Interpretationsangebote diskutiert und andere Materialien erarbeitet, wie zum Beispiel „Zur schöpferischen Arbeit im Literaturunterricht“ von 1974. Hier findet sich ein Beispiel zur Erschließung des Romans „Effi Briest“. Für die Erstrezeption sollten Gruppenaufträge erarbeitet werden. Einer davon lautete: „Wie wird in einzelnen Werken, die Ihnen aus dem Unterricht oder der Privatlektüre bekannt sind, die Befreiung der Frau aus familiärer, sozialer, politischer und moralischer Unterdrückung dargestellt? Versuchen Sie, die Beispiele so zu ordnen, daß der Emanzipationskampf der Frau als aufsteigende Linie zum Ausdruck kommt! Welchen Platz nimmt in dieser Linie das Werk ,Effi Briest‘ ein?“. Hier wird das marxistische Fortschrittskonzept angedeutet und die Emanzipation der Frau als komplexer Vorgang mit aufsteigender Tendenz suggeriert. Die „Heldin“ Effi erhielt ihren Platz im Erziehungs- und Bildungskonzept der DDR. Zu den Bildungs- und Erziehungszielen heißt es unter anderem: „Die Schüler werden angeregt, über Liebe und Ehe in unserer sozialistischen Gesellschaft nachzudenken ... Die Schüler erkennen, daß im Konflikt Effis eine gesellschaftlich bedeutsame Problematik zum Ausdruck kommt, die schon seit der Literatur der Aufklärung, ... bevorzugt gestaltet wird: die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Sie erkennen, daß gerade auch die gesellschaftliche Stellung der Frau ein wesentliches Kriterium für die Beurteilung des Charakters einer Gesellschaftsordnung und des historischen Entwicklungsstandes der menschlichen Gesellschaft darstellt.“ Diese Erkenntnis wurde auch auf die Situation in der DDR übertragen. Frauen wurden zu bevorzugten künstlerischen Objekten beziehungsweise Symbolen. Die meistdiskutierten Bilder der DDR- Kunstausstellungen stellten Frauen und ihre konfliktreiche und widersprüchliche Lebenssituation dar.

Nach dem Mauerbau 1961 wurde in allen Dokumenten zur Frauenfrage auf die Beispielwirkung für die Frauen und Mädchen in Westdeutschland hingewiesen, um noch mehr Einsatz der Frauen zu erreichen. Seit dem VI. Parteitag der SED 1963 galt die Losung „ein Leben lang lernen“, die sich dann auch niederschlug in den Vorstellungen von Mitverantwortung der Frauen. 1969 formulierte das ZK der SED dazu, es hieße, „mit mehr Initiative und Verständnis für die weitere Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen Sorge zu tragen und solche Voraussetzungen zu schaffen, die es den Frauen erleichtern, Berufstätigkeit, Lernen, Familie und gesellschaftliche Arbeit in Übereinstimmung zu bringen“. Diese Auffassungen wurden normbildend. Frauen, die sich lieber nur den Kindern und der Familie widmen wollten, lagen außerhalb der Norm und konnten nur auf wenig Verständnis rechnen. Vor allem diese Orientierung und Lebensplanung macht es heute den ostdeutschen Frauen so schwer, Arbeitslosigkeit zu verkraften.

Der Diskurs zur Frauenfrage hatte sich seit Mitte der 70er Jahre unter der Hand vom politischen in den literarischen Diskurs verlagert. Die Frauenbilder differenzierten sich aus und die Themen erweiterten sich. Eine politische Frauenbewegung konnte aus unterschiedlichen Gründen in den siebziger Jahren nicht entstehen. Die öffentlichen Emanzipationsvorgaben und das ständige Beachten der Probleme der Frauen führte dann ja auch tatsächlich zu partiellen Erfolgen, die heute als Gleichstellungsvorsprung der Ostfrauen gelten. Dennoch – die Reproduktionsarbeit war und blieb allein Aufgabe der Frau. So hat sich an der grundsätzlichen Mehrfachbelastung der Frauen in der DDR im Grunde nichts geändert.

Irmtraud Morgner unternahm es als einzige Autorin, auf den Schriftstellerkongressen der DDR hartnäckig und vehement ihre „Frauenfrage“ zu stellen. (Siehe Dokumentation!)Die DDR-Behörden waren verständlicherweise nicht interessiert an einer alternativen Frauenbewegung in Konkurrenz etwa zum Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD). Ebensowenig war eine feministische wissenschaftliche Richtung gefragt, denn all das hätte Kritik am patriarchalen Sozialismus bedeutet und Fragen an die Oberfläche gebracht, die lieber unter den Teppich gekehrt wurden.

Ein feministischer Diskurs unter jungen Leuten läßt sich weder in der DDR-Öffentlichkeit finden, noch in der unterdrückten Öffentlichkeit, wie zum Beispiel der Prenzlauer-Berg-Szene. Die Vermutung liegt nahe, daß auch in dieser angeblich alternativen Kultur patriarchale Strukturen reproduziert wurden. Das Leben in und Leiden an den Widersprüchen und Konflikten der DDR-Realität hatte offensichtlich einen wesentlich höheren Stellenwert als die Frage weiblicher Unterdrückung in patriarchalen Strukturen, obwohl zwischen beidem ein Zusammenhang bestand. Es liegt auf der Hand, daß sich hier Sozialisationsmuster durchgesetzt haben, die grundsätzlich auf die „große Sache“ der Utopie orientierten. Die neue Situation von ostdeutschen Frauen im deutschen Umbruchsprozeß und ihr Verhalten in bezug auf die Frauenbewegung der BRD ist davon wesentlich geprägt. Wie einschneidend die Umwertung der Werte von den ostdeutschen Frauen erfahren wird veranschaulicht eine kleine Anekdote: Eine arbeitslose 30jährige Bekannte (Hochschulabsolventin) mit drei kleinen Kindern wurde vor kurzem gefragt, wo sie denn jetzt arbeite. Bevor sie antworten konnte, antwortete ihre achtjährige Tochter: „Die sitzt zu Hause und macht nichts. Die ist Rentnerin.“

Ein ausführlicher Essay zum Thema wird demnächst in der Aufsatzsammlung „Der weibliche multikulturelle Blick“ im Trafo-Verlag erscheinen. ISBN: 3-930412-27-6

Das Bild von Wetzel und andere Werke der DDR-Auftragskunst sind derzeit im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu bestaunen.