Nomadische Energien

Der Literaturwissenschaftler Edward W. Said liest die großen Romane des 19. und 20. Jahrhunderts neu. Sein neues Buch rekonstruiert die Beziehung von Kultur und Macht im Zeitalter des Kolonialismus und der Imperien  ■ Von Mark Terkessidis

Die vergleichende Literaturwissenschaft – zumal die deutsche – hat sich das Verhältnis der Nationalliteraturen zueinander gern als eine Symphonie vorgestellt. In der Tradition Herders verstand man die Literaturen als Produkte originärer Kulturen, die im wohlgeordneten Ganzen der Welt harmonieren, alle „gleich nahe zu Gott“. Diese Vorstellung teilen wir aus gleich mehreren Gründen nicht mehr. Zum einen sind die Werke, die eine Kultur ausmachen, kein Ausfluß feststehender Essenzen; was auch immer sich da gebildet hat, war immer schon „gemischt“. Zum anderen mögen die Kulturen gleich nahe zu Gott sein, auf der Erde jedenfalls ist ihr gegenseitiges Verhältnis eines von Ungleichheit und Dominanz; einer Dominanz im übrigen, die oft in einem Prozeß der Unterdrückung die heute so vielbeklatschten kulturellen Differenzen erst hervorgebracht hat. Kann also die Literatur – sowohl die des „Zentrums“ als auch die der „Peripherie“ – von einer solchen Dominanz unbehelligt geblieben sein?

Der aus Kairo stammende Edward W. Said, der heute an der New Yorker Columbia University vergleichende Literaturwissenschaft lehrt, mag biographische Gründe haben, die Vorstellung von einer Symphonie der Kulturen zurückzuweisen. Er wuchs mit einem muslimischen und einem christlichen Elternteil auf. Später beteiligte er sich als palästinensischer Araber am Kampf der Palästinenser um Unabhängigkeit und war bis zum Vertrag über die Autonomiegebiete, den er als Ausverkauf empfand, ständiges Mitglied in Jassir Arafats Exilparlament. Die Macht kultureller Zuschreibungen, kann man annehmen, ist jemandem mit einer solchen Geschichte bewußt.

In seinem neuen Buch „Kultur und Imperialismus“ bemüht auch Said eine musikalsche Metapher; er spricht von einer „kontrapunktischen Lektüre“, aber er richtet ihr Modell nicht an der Symphonie, sondern an einem „atonalen Ensemble“ aus: „Wir müssen alle Arten räumlicher, geographischer und rhetorischer Praktiken in Rechnung stellen – Brechungen, Grenzen, Zwänge, Einmischungen, Einschlüsse, Verbote –, um eine komplexe und ungleichmäßige Topographie zu erhellen.“

Die literarischen Texte schweben nicht unhistorisch „über“ dem Raum, in dem sie geschrieben werden. Said unternimmt den Versuch einer „vergleichenden Literaturwissenschaft des Imperialismus“: „Westliche Kulturformen können aus den autonomen Gehegen, in denen sie Schutz genossen haben, herausgelöst und nun in das vom Imperialismus geschaffene dynamische Globalarrangement gestellt werden, das seinerseits als fortdauernder Widerstreit zwischen Nord und Süd, Metropole und Peripherie, Weißen und Nicht- Weißen überprüft werden muß. Auf diese Weise wird der Imperialismus als Prozeß sichtbar.“

Sein besonderes Augenmerk gilt dabei dem Roman als der literarischen Ausdrucksform des expandierenden Bürgertums. Said gesteht zu, daß Kritiker und Theoretiker zwar schon den „instutionellen Charakter“ des Romans, d.h. sein Eingebundensein in die vereinheitlichende Aneignung und Narrativierung der Welt durch die „registrierenden, ordnenden und beobachtenden Kräfte des autorisierenden Subjekts“ herausgestrichen haben. Said geht es aber in seiner Komparatistik des Imperialismus darum, im Roman – „kontrapunktisch“ zur wirklichen Geschichte – „Strukturen der Einstellung und Referenz“ zum Imperialismus aufzufinden, die über das Verhältnis zwischen „Eigenem“ und überseeischem „Anderen“ Auskunft geben. In „Robinson Crusoe“, einem der frühen bürgerlichen Bestseller, geht es schon um das Verhältnis zu den unterdrückten „Primitiven“. Diese Strukturen erst machen Schriftsteller zu englischen oder französischen, und ihre Analyse kann zeigen, daß die angebliche Essenz der nationalen Kulturen immer auf solchen Verhältnissen gegründet und ohne die unterdrückten Anderen nicht denkbar ist. Said rekonstruiert die Nationalliteraturen nach dem Maß, wie sie den Anderen institutionalisieren und unterdrücken.

Die Erfassung dieser Ebene in der Literatur wäre bereits kompliziert genug, aber Said läßt es damit nicht bewenden. In seiner klassischen Untersuchung „Orientalism“ hat er die westlichen Diskursformationen und -praktiken über den Mittleren Osten und ihren Zusammenhang mit dem Kolonialismus analysiert. Die Wirkungen liefen dabei vom superioren „Westen“ zum kolonisierten „Orient“. In „Kultur und Imperialismus“ will Said aber auch die anderen, die Gegen-Geschichten zur Sprache kommen lassen: Nicht nur werden die Erzählungen der westlichen Hemisphäre „kontrapunktisch“ gelesen – „mit dem Bewußtsein der Gleichzeitigkeit der metropolitanen Geschichte, die erzählt wird, und jener anderen Geschichten, gegen die (und im Verein mit denen) der Herrschaftsdiskurs agiert“ – die Geschichten der „Entkolonisierung“ werden im zweiten Teil des Buches selbst analysiert. Die gewissermaßen „ideologiekritische“ Lektüre der Texte von Joseph Conrad, Jane Austen, Rudyard Kipling, aber auch von Verdis „Aida“, operiert dabei keineswegs mit einer Logik des Verdachts. Saids Lektüre läßt die Werke als – immer ambivalente und individuelle – Kunstwerke intakt, deren Analyse sich nicht im Auffinden der schematischen „Strukturen der Einstellung und Referenz“ erschöpft.

Zur Illustration seiner Methode soll hier ein kleiner Ausschnitt seiner Untersuchung des Werkes des französisch-algerischen Schriftstellers Albert Camus dienen. Glaubt man der immer noch weitgehend ungebrochen herrschenden Rede über Camus, so berichten seine Texte von einer allgemeinen, existentiellen „condition humaine“. Said hintergeht diese Sichtweise und fragt sich, wie man zu diesem unhistorischen Wesen „Mensch“ wird, wie man eigentlich in den Genuß dieser Universalität der eigenen Erfahrung gelangt. Anders ausgedrückt, wer muß von dieser Allgemeinheit ausgeschlossen werden, wer muß „Masse“ werden, damit man selbst in diese Allgemeinheit aufsteigen darf?

An Camus läßt sich die Frage stellen, welche spezifische Form die „existentielle Konfrontation“ bei ihm annimmt, wer der ungenannt anwesende Dritte in dieser Konfrontation ist. Said sucht die ausgeschlossene Seite auf: „Mersault [die Hauptfigur aus „Der Fremde“, d. Red.] tötet einen Araber, aber der Araber ist namenlos und scheint ohne Geschichte zu sein, gar nicht zu reden von Vater und Mutter; ebenso sicher ist, in Oran sterben Araber an der Pest, doch auch sie tragen keine Namen, während Rieux und Tarou [Hauptfiguren in „Die Pest“, d. Red.] in die Handlung geradezu hineingestoßen werden.“ – Dieses Ausgeschlossensein bezieht Said auf Camus' spätere ablehnende Haltung gegenüber der algerischen Unabhängigkeitsbewegung, indem er verdeutlicht, daß Camus' Algerien- Bild von Beginn seiner literarischen Karriere an äußerst konsistent blieb: „Camus' Halsstarrigkeit erklärt die Unbestimmtheit des von Mersault getöteten Arabers, also auch den Eindruck von Verheerung in Oran, der implizit dazu ausersehen ist, nicht vorrangig die arabischen Toten (die ja demographisch ins Gewicht fallen) anzumahnen, sondern das französische Bewußtsein.“

Zu den globalen „sich überschneidenden Territorien“ gehören aber eben nicht nur die Geschichten der Kolonisatoren, sondern auch jene der Kolonisierten: Hier breitet Said eine Fülle von noch nicht übersetztem Material aus.

In Deutschland sind von den behandelten Autoren William Butler Yeats, Aimé Césaire und Frantz Fanon bekannt. Said beschäftigt sich in diesem Zusammenhang ausführlich mit den Ambivalenzen von „Befreiungsnationalismus“ und „Identitätspolitik“. Er weiß, daß „eine einfache nationale Geschichte“ zu erzählen letztlich den Fehler des Imperialimus wiederholen heißt und daß der „kulturelle Intellektuelle“ die „Identitätspolitik“ nicht als gegeben hinnehmen darf und sich fragen muß, „wie ihre Pfeiler konstruiert sind, zu welchem Zweck, von wem und mit welchen Komponenten“; dennoch wäre es politisch blauäugig, wollte man ihre Attraktivität im Kampf gegen den Imperialismus übersehen.

Für Edward Said geht es darum, einerseits die katastrophische Entwicklung der unabhängigen Nationen der „Dritten Welt“ zu erklären, deren häufig westlich geprägte Eliten die „Mission“ des Imperialismus fortsetzten, und andererseits selbst die Perspektive einer Kultur zu entwerfen, die den essentialistischen Weg vermeidet.

In diesem Zusammenhang untersucht er vier Werke der Forschung, zwei aus den dreißiger Jahren („The Black Jacobins“ von C.L.R. James und „The Arab Awakening“ von G. Antonius) und zwei aus den sechziger und siebziger Jahren („A Rule Of Property For Bengal“ von R. Guha und „The Myth Of The Lazy Native“ von S.H. Alatas). An ihnen zeigt er eine interessante Verschiebung: Während bei den ersten beiden „packende, gar erhabene Geschichten vom Aufstieg der Widerstandsbewegungen aus dem Volk, große Erzählungen von Aufklärung und Emanzipation im Sinne Jean-François Lyotards“ berichtet werden, fehlen solche Geschichten bei Alatas und Guha. In der Zwischenzeit, so die Erklärung, hat die von Frantz Fanon früh beklagte Tendenz zum Nativismus und zur Essentialisierung der Politik an Einfluß gewonnen. Der „Dritte Welt“-Nationalismus, so Said, endet als Unterwerfung unter einen „globalen Prozeß der Rationalisierung auf der Grundlage externer Normen“ in Staats- Ideologien von verheerender Wirkung.

Mit Fanon als Bindeglied zwischen „Befreiungsnationalismus“ und Kritik des Nationalismus plädiert Said selbst für „internationalistische Gegen-Artikulationen“, „hybride“, „nomadische, unstet wandernde und anti-narrative Gegen-Energien“, „deren leibliche Verkörperung heute der Migrant und deren Bewußtsein das des Intellektuellen und Künstlers im Exil ist, die politische Figur zwischen den Sphären, zwischen den Formen, zwischen den Sprachen“. Indem er allerdings diese Energien selbst wieder mit der klassischen Subjektvorstellung beschreibt – Körper: Migrant, Kopf: Exil-Intellektueller – zeigt er zugleich, wie schwierig diese „anti-narrativen Energien“ zu denken sind und wieviel schwerer noch zu politisieren. Sicher ist es die Konsequenz der Saidschen Analysen, die in der Tradition des Poststrukturalismus stehen, für das „Nomadische“ Stellung zu beziehen und es weiterzudenken, aber es bleibt noch unklar, wie sich dessen „Energien“ gegen die „ideologischen“ Erzählungen durchsetzen sollen. Und das gerade in einer Zeit, in der die große Erzählung von der Bedrohung der abendländischen Kultur (durch Migranten- und andere „Fluten“) so weithin attraktiv scheint wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.

Edward W. Said: „Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht“. Aus dem Englischen von Hans- Horst Henschen, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1994, 528 Seiten, geb., 58 Mark