■ Gewerkschaften: Noch nie waren sie so schwach wie heute
: Keine Zeit zur Trauer

Bislang galten starke Gewerkschaften als Markenzeichen einer Demokratie. Doch die realexistierenden haben es bald soweit gebracht, daß alle sie ablehnen oder sich schlicht nicht mehr für sie interessieren. Die Gewerkschaften, die großen Kritiker von Macht und Geld, haben sich aus Größenwahn in eine teuflische Lage gebracht – und die Gesellschaft dazu. Immer mehr tritt die soziale Frage in den Hintergrund. Die Gunst der Stunde wird genutzt.

Keine der Rahmenbedingungen und Ausgangsdaten gelten mehr wie einst, als die Gewerkschaften mit der Entstehung der Arbeiterklasse heranwuchsen. Der soziale Wandel macht sie nun zu Dinosauriern. Die Industrieproduktion schwindet dahin zu feiner Technologie und Dienstleistungswirtschaft, die Massenproduktion zu hochdifferenzierter dezentralisierter Fertigung just in time, die Produktivität steigt, der starke Facharbeiter – Held und Fürsorger — weicht der intellektuell, kommunikativ und sozial wendigen selbständigen Person. Der nationale Markt weitet sich zum globalen, soziale Spaltungsprozesse sind hundertmal vervielfältigt und verschränkt. Die alten Orientierungen, Methoden und Ziele versagen – und es offenbart sich der verselbständigte und zugleich ausgediente Apparat.

Den Gewerkschaften fehlen innere Reserven für einen Neuanfang. Was bisher Stärke und Lösungskompetenz ausmachte, geht dahin oder ist hinderlich. Die kollektive Streikfähigkeit läßt nach und verliert, selbst wo sie gelingt, an Wirksamkeit. Die Unternehmer können ausweichen. Neue Mitglieder lassen sich so nicht rekrutieren. Mit den in den ungesicherten und vogelfreien Erwerbsverhältnissen Lebenden, gar Hausfrauen und Arbeitslosen, kommt die Gewerkschaft überhaupt nicht erst in Kontakt. Innergewerkschaftliche Solidarität und Einheitlichkeit helfen nicht weiter, wenn sie keinen Sinn mehr in kollektiven Zielen finden, in ihrem Namen dagegen Probleme verkleistert oder ständische Interessen verfochten werden. Heilsamer Druck von unten bleibt aus, denn das dort Dominierende stirbt dahin. Für Leiden und Trauer fehlt die Zeit, was zu weiterer Tabuisierung führt.

Auch aus dem Apparat kommt keine Veränderung. Seine Funktionäre sind erzogen zu lebenslanger Aufopferung und erhalten im Gegenwert lebenslange Existenzsicherung und ihre Machtposition. Um sie rankt sich der Mythos treuer Kämpfer für die Sache, die anzutasten Verrat ist. Auch die Zeit der inneren Opposition und damit der alternativen Optionen ist vorbei. Wer nicht mehr einverstanden ist, verläßt die geschlossene Veranstaltung.

Einige aufgeklärte Funktionäre haben die Not sehr wohl bemerkt und angesichts drohenden Machtverlustes Abhilfe von oben versucht. Eine lange überhängige Reform allerdings ist riskant, weil eine erstarrte Organisation bei Renovierungsarbeiten auch zusammenbrechen kann. Wer dem mit „Vorsicht“ begegnet, verhält sich ironischerweise problemverschärfend. In der HBV beispielsweise wollten einige Reformer ihre Organisation vergleichsweise früh durch ein untergejubeltes „Mehr und Besser“ zu einer „modernen“ Gewerkschaft machen. Doch allein mit kapitalistischem Management, Professionalität und teurer Werbung war den tiefsitzenden politischen und moralischen Identitätsproblemen nicht beizukommen. Auch frühere oder spätere politische Impulse aus den oberen Etagen der IG Metall, ÖTV, IG Medien oder anderer reichen nicht. Zum einen klammern sich die meist männlichen „Führer“ als herrschaftlicher Teil des Problems aus und begrenzen so in vielerlei Hinsicht die Sichtweise auf die Krise. Zum anderen stoßen sie folgerichtig an die prinzipiellen Grenzen verordneter Veränderung. Bloße Gefolgschaft wird verlängert oder zerstörerischer innerer Widerstand evoziert.

Erst die akute Finanzkrise, hervorgerufen vor allem durch herbe Mitgliederverluste, zwingt viele Gewerkschaften zum Handeln. Personalabbau und Sparkurs werden mittlerweile als unumgänglich angesehen. So offenbart sich auch für gewerkschaftliche Kreise der regulative Stellenwert des Geldes, den sie sonst gerne leugnen. Gewerkschaften desavouieren sich doppelt. Ohne Druck kommen sie nicht in Gang, und andere Mechanismen zur Krisenbewältigung als die der „Herrschenden“ haben sie auch nicht. Diese Art Sparkurs könnte schließlich dadurch gekrönt werden, daß niemand mehr da ist, der noch zur Kreation von irgend etwas Neuem in der Lage ist. Wo es um den Sinn des Ganzen geht, ist der Rotstift Selbstmord. Ähnliches gilt für alle, heute an „Effizienz“ orientierten Organisationsreformen. Mit Fusionierung, Spezialisierung, Qualifizierung und rationeller Verwaltung allein ist allenfalls technokratische oder designerische Modernisierung zu erwarten, aber keine politische Erneuerung. Es ist kein Zufall, daß diesen „Reformen“ eigenständige Frauen-, Jugend- und Bildungsstrukturen zum Opfer fallen.

Das größte Hindernis, das politischer Gestaltungsfähigkeit im Wege steht, dürfte in einem Verständnis von Kapitalismus als abstraktem, allmächtigem, zentralistisch gesteuertem Gebilde und der daraus resultierenden Fixierung auf einen bloßen Gegenzentralismus liegen. Das findet seine Entsprechung in einem Verständnis der Arbeitenden als einer abhängigen Masse, die nur in Gestalt gleichförmiger Verweigerung Gegenmacht erlangt – oder ohnmächtiges Opfer bleibt. Es fehlt das handelnde Subjekt, es fehlt die Erkenntnis sowohl des Reichtums und der Macht der Individuen als auch der Wandelbarkeit der sie eingrenzenden Strukturen. Bei passender Gelegenheit folgt dann doch der Ruf nach Basisdemokratie, dem die Enttäuschung über die Wiederholung von Machtkämpfen und Leere im Basiskleinformat auf dem Fuß folgt. Der Regelungswut von oben folgt keine automatische Selbsthilfe von unten, gegenseitige Schuldzuweisung steht anstelle des Abbaus organisierter allseitiger Verantwortungslosigkeit.

Es ginge aber um eine erneuerte demokratische Netzwerk-Struktur, um innerorganisatorische Gerechtigkeit, Selbstverantwortung und Arbeitsteilung. Das macht Enthierarchisierung und Selbstbeschränkung der gegenwärtigen Mehrheit zugunsten der Minderheiten, Diskriminierten oder Ausgegrenzten nötig. Gewerkschaft muß sich als Selbstorganisation emanzipationswilliger ArbeitsbürgerInnen begreifen. Sie muß sich eben dafür zur Verfügung, das heißt auch permanent zur Disposition stellen.

Die Krise der Arbeitsgesellschaft ist nur lösbar, wenn Emanzipation für alle von ihr Abhängigen, Frauen und Männer, vorgesehen ist. Radikale Öffnung ist der einzige Ausweg. Nur dann haben Gewerkschaften die Chance, durch Blutzufuhr von außen noch gerettet zu werden. Mechtild Jansen

Publizistin, lebt in Köln