System gewordenen Willkür

■ Lang erwartet wurde die Rede des russischen Präsidenten zur Lage der Nation - nun hat er sie endlich gehalten. Sie fiel widersprüchlich aus: Jelzin will Demokratie und Eintracht aller Parteien, Menschenrechte ...

Lang erwartet wurde die Rede des russischen Präsidenten zur Lage der Nation — nun hat er sie endlich gehalten. Sie fiel widersprüchlich aus: Jelzin will Demokratie und Eintracht aller Parteien, Menschenrechte und Tschetschenien-Krieg zugleich

System gewordene Willkür

Es gibt ihn, Boris Jelzin. Der russische Präsident ist sogar imstande, über eine Stunde zu reden. Ohne ein einziges Mal zu stolpern, las er seine lang erwartete Ansprache vor den beiden Kammern des russischen Parlaments vor. Er kann es fast so gut wie Gorbatschow, auf jeden Fall viel besser als Breschnew. Zwangsläufig denkt man an die einstigen Generalsekretäre, die von der gleichen Tribüne im Marmorsaal des Kremlpalastes die ZK-Sitzungen dirigierten. Nur saßen damals im Präsidium sämtliche Politbüromitglieder, während der Erste seine Anweisungen zur zukünftigen „Linie der Partei“ gab.

Heute sieht man auf der Tribüne nur die beiden Parlamentsvorsitzenden, die gleichzeitig in Jelzins Sicherheitsrat sitzen. Als wäre Jelzin nun tatsächlich Alleinherrscher Rußlands, ein Monarch, ein Zar. Er plädierte für die „Festigung des Staates“ und kritisierte die freien Medien für dessen „Verhöhnung“, glumlenije – das alte Wort, das nicht nur sowjetische Herrscher, sondern auch die Zaren gerne in den Mund nahmen. Allein diese Wortwahl verrät vieles: Jelzin identifiziert sich mit diesem „jahrhundertealten russischen Staat“, nimmt jede Kritik sehr persönlich: „L'etat, c'est moi.“

Höchst widersprüchlich erscheint deswegen sein Plädoyer für die zivile Gesellschaft. Seit Jahrhunderten herrsche, so Jelzin, in Rußland die Mißachtung der Gesetze. Auch heute noch würden viele Russen weder ihre Rechte noch die Pflichten der Behörden gegenüber den Bürgern kennen. Das faßte der Präsident in einer prägnanten Formulierung zusammen: „System gewordene Willkür“. Diese Einschätzung trifft den Nagel auf den Kopf, sie ist aber wohl einem Referenten zu verdanken. Jelzins eigene Auffassung, sein (Miß-)Verständnis des Rechtsstaates, bringt er gleich im nächsten Satz zum Ausdruck: die „Schule der zivil-bürgerlichen Gesellschaft“ sei der im vergangenen Jahr zwischen den wichtigsten politischen Parteien geschlossene „Pakt über das gesellschaftliche Einvernehmen“. Unter diesem Vertrag steht auch die Unterschrift von Wladimir Schirinowski. Die uralte Vision, in Eintracht zu leben, stand der russischen Demokratie immer im Wege. Versucht Jelzin auch heute noch, über sein „einträchtiges“ Volk alleine zu herrschen?

Und auch der von Jelzin verwendete Begriff der „Schule“ hat in Rußland Tradition: Einst nannte Stalin seine Marionettengewerkschaften die „Schule des Kommunismus“. Seit dem Tschetschenien-Krieg können politische Parteien genauso wenig die Interessen ihrer Wähler durchsetzen wie Stalinsche Gewerkschaften die der „Werktätigen“. Die Institutionen des entstehenden Rechtsstaates degenerieren in der Tat zu einer „Schule“, wo der Präsident einen strengen Lehrer spielt.

„Die Überwindung des totalitären Drucks“, so Jelzin, sei eine wichtige Aufgabe seiner Politik. Die Immunität gegen den Faschismus sei ausgerechnet im 50. Jahr des Sieges über diesen schwächer geworden. Die Pflicht des Staates sei es, hier „Ordnung zu schaffen“. Das bedeutet aber nicht eine Distanzierung von Schirinowski, der die öffentliche Eintracht gar nicht stört und sogar als einziger bedeutender Politiker Jelzins Kriegspolitik unterstützt.

In seiner Ansprache trieb der Präsident die Dämonisierung seines tschetschenischen Feindes weiter, er sprach von dem „Krebsgeschwulst des Dudajew-Regimes“. Es sei ein Fehler gewesen, so lange auf einen Kompromiß zu hoffen. Das sagt Jelzin gerade nach den ersten Erfolgen bei den Verhandlungen über einen Waffenstillstand. Sind dann die Verhandlungen mit den kaukasischen Freischärlern nur ein Manöver, um Jelzins Rede mehr Akzeptanz in der Duma und im Westen zu verschaffen?

Der Westen scheint den russischen Präsidenten nicht sonderlich zu interessieren. Er wiederholte lediglich die bekannten Argumente gegen die Ausdehnung der Nato. Hinter der Kritik an Rußland verberge sich der Wunsch, den potentiellen Partner zu beseitigen. Wenn diese Bestrebungen die Oberhand gewännen, würden sie die Schaffung einer neuen Weltordnung durchkreuzen.

Jelzins Bereitschaft zu einer Partnerschaft mit dem Westen kam so eher im wirtschaftlichen Teil seiner Rede zum Ausdruck. Die Erklärung dafür liegt auf der Hand: Ohne westliche Kredite wird das russische Budget platzen. Es ist teuer, einen Krieg zu führen, und besonders auf eigenem Territorium. Denn dann ist man auch noch für den Wiederaufbau verantwortlich.

Um die in Tschetschenien gefallenen „Landsleute“ zu ehren, forderte Jelzin die Abgeordneten auf, sich zu erheben. Ob er mit Landsleuten auch die Tschetschenen meinte, ist fraglich. Denn später sprach der Präsident von den Interessen „unserer Landsleute im nahen Ausland“, gemeint sind damit die ehemaligen Sowjetrepubliken. Und in diesem Kontext versteht man in Rußland unter „Landsleuten“ ausschließlich die Russen.

Seine Ansprache ist voll von derartigen Widersprüchen. Eigentlich ist es üblich, daß solch umfassende Reden von mehreren Referenten geschrieben werden, die für unterschiedliche Ressorts zuständig sind. Von einem Staatsmann dürfte man aber doch erwarten, daß er deren Ausführungen auf eine einheitliche Linie bringt, die dann auch seine eigene Position zum Ausdruck bringt. Wie soll man aber einen Jelzin verstehen, der zuerst Verstöße gegen die Menschenrechte und die Vorgehensweisen der Militärs in Tschetschenien kritisiert, danach aber behauptet, daß es keine Russen waren, die auf die Zivilbevölkerung geschossen haben?

Um in Zukunft ein ähnliches Versagen der Armee zu verhindern, kündigte ihr oberster Befehlshaber weitere Reformen in der Militärindustrie sowie bei den Streitkräften selbst an und erwähnte auch „eine neue Regelung“ des Einberufungsgesetzes. Unklar bleibt, ob der Präsident damit die Hardliner im Verteidigungsministerium unterstützt. Denn diese fordern seit der Invasion in Tschetschenien die Aufhebung der heutigen Regelung, die die Studierenden von der Militärpflicht befreit. Jelzin beließ es auch bei einer bloßen Ankündigung einer Veränderung der Personalpolitik im Verteidigungsministerium, der Name von Verteidigungsminister Gratschow fiel jedoch nicht.

Jelzins Rede war amorph. Der Präsident wiederholte lediglich das, was seine Mannschaft bereits gesagt hatte. Er hoffte vielleicht, daß er als Präsident deren Plattitüden eine neue Bedeutung verleihen kann. Aber die bloße Erwähnung der Demokratie oder des Rechtsstaates kann Rußland eben nicht in eine Demokratie verwandeln. Dafür bräuchte man eine klar artikulierte Reformpolitik. Die Zeiten, in denen die Benennung eines Ziels in den Reden der Parteichefs das Leben des ganzen Landes bestimmte, sind vorbei. Boris Schumatzky