Eher eine Kunst als eine Wissenschaft

■ Der Kinderarzt Albrecht Spieß über Behandlungsmethoden / Diät hilft nur teilweise

taz: Sie arbeiten seit 1976 in Ihrer Praxis, sind also ein erfahrener Kinderarzt. Wie stark ist in diesem Zeitraum die Zahl der Allergien angestiegen?

Albrecht Spieß: Vor allem bei der Neurodermitis ist ein rasanter Anstieg zu verzeichnen: Schätzungsweise zwischen sieben und zehn Prozent unserer Kinder haben Ekzeme. Bei Asthma und Heuschnupfen ist der Anstieg nicht ganz so dramatisch. Aber: Asthma ist in den letzten fünfzig Jahren um das Zehnfache angestiegen, 1960 bis 1970 und 1970 bis 1980 haben sich die Fälle jeweils verdoppelt. Auffällig ist auch, daß immer mehr Säuglinge Asthma oder eine asthmoide Bronchitis haben.

Welche Behandlung wenden Sie bei Asthma an?

Heute gibt man auch schon bei leichten Asthmafällen lieber entzündungshemmende Medikamente, um zu verhindern, daß sich winzige entzündliche Narben im Lungenbereich bilden, die ein Leben lang bleiben. Äußerst wichtig ist es , daß die Kinder in Atemtherapiegruppen lernen, gut zu atmen. Auch Akupunktur hilft manchmal.

Welche Therapieformen gibt es für die Neurodermitis?

Man muß die Behandlung individuell abstimmen. Da reicht die Palette von Hautpflege über Wohnraumsanierung und Ernährung bis zur seelischen Therapie. Mit einer Diät ist nur maximal 20 Prozent der Kinder zu helfen, denn die meisten Kinder reagieren nicht eindeutig auf ein bestimmtes Lebensmittel. Vor sogenannten bewährten Diäten warne ich: Rohkost zum Beispiel hat hohe allergene Anteile, die sich verringern, wenn die Stoffe gekocht werden. Außerdem können Diäten zu Mangelerscheinungen führen.

Kann man mit Bluttests herauskriegen, auf was das Kind allergisch reagiert?

Sie sind ein Indikator, aber kein Beweis dafür, daß ein Kind auf einen mit positivem Ergebnis getesteten Stoff auch wirklich allergisch reagiert. Im Grunde muß man alle Stoffe durchtesten, indem man sie in der Küche wegläßt und dann sukzessive wieder hinzufügt.

Helfen bei Neurodermitis Salben weiter?

Bloß kein Standard-Cortison- Programm! Diese Glucocorticoide können schwere Nebenwirkungen auslösen. Aber es gibt Situationen, in denen Cortison angebracht ist: zum Beispiel wenn das Kind sich auch nachts so stark kratzt, daß die ganze Familie nicht mehr schlafen kann.

Welche Erfahrungen haben Sie mit der Homöopathie gemacht?

Manchmal erleben wir sehr schöne Erfolge, bei anderen Kindern wiederum hilft es nicht.

Und die Bioresonanztherapie?

Hier fehlen die großen Studien, ob sie wirklich hilft. Die Ergebnisse, die ich bisher gesehen habe, überzeugen mich nicht sehr. Aber man muß ihr genauso offen gegenüberstehen wie anderen Methoden. Der Oberarzt des Stuttgarter Olgahospitals hat ein Buch über Neurodermitis geschrieben, in dem es über den Arzt, der alternative Methoden anwendet, heißt: Damit „verläßt er nicht unbedingt den Boden der ärztlichen Ethik, auch wenn keine exakten wissenschaftlichen Grundlagen gegeben sind. Gerade bei einer Erkrankung wie der atopischen Dermatitis ist die Behandlung eher eine Kunst als wissenschaftlich begründet.“ Das trifft es exakt. Interview: Ute Scheub