Krankheit als Bürgersymptom

■ Allergien bei Kindern steigen vor allem in einkommensstärkeren Schichten und in "sauberen" Ländern stark an / Allergiker ohne Lobby / Berliner Selbsthilfegruppen bieten Beratung an

Das Berliner Kindl von heute ist allergiekrank. Kaum noch ein Kind wächst in der Großstadt auf, ohne irgendwann eine latente oder manifeste Allergie zu erwerben. Latent heißt, daß eine erhöhte Sensibilisierung des Körpers für allergene Stoffe – vor allem Kuhmilch, Ei, Weizen, Zitrusfrüchte, Hausstaubmilben, Pollen, Tierhaare – feststellbar ist, ohne daß sich Symptome zeigen. Eine latente Allergie kann sehr schnell in eine manifeste umschlagen und sich dann als Neurodermitis (Juckflechte), Asthma bronchiale oder Heuschnupfen äußern.

Zwar gibt es keine genauen Daten, aber der Allergologe Prof. Ulrich Wahn von der Universitätskinderklinik schätzt, daß jedes vierte Kind in Berlin allergisch ist. Wenn nicht noch mehr: Eine Massenbefragung unter Charlottenburger Drittkläßlern ergab 1990, daß fast 40 Prozent von ihnen allergische Beschwerden und mehr als 20 Prozent eine manifeste Allergie haben. Überraschendes Nebenergebnis: Kinder aus Familien von Selbständigen sind fast doppelt so oft allergisch wie Arbeiterkinder. Auch in den Vereinigten Staaten, so Professor Wahn, steige die Allergierate mit dem Einkommen. Daß Allergien womöglich typische Wohlstandskrankheiten sind, wird auch durch andere Studien neueren Datums nahegelegt. Im internationalen Vergleich haben nicht etwa die östlichen Länder mit besonders starker Luftverschmutzung die höchste Allergierate, sondern die westlichen. Auch im Vergleich zwischen Leipzig und München stellte ein Forscherteam fest,daß die Ost-Kinder zwar öfter Husten und Bronchitis haben, die West-Kinder aber mehr Heuschnupfen und Asthma.

Mehr Allergiker im Westen

Der dänische Allergieforscher Dr. Henning Lowenstein wagt deshalb die These, daß das Immunsystem in der westlichen Welt, in der immer mehr geputzt und gewaschen wird, zuwenig „trainiert“ wird und deshalb zu der „überschießenden“ Reaktion neigt, einen harmlosen Stoff als feindlichen zu attackieren. Prof. Wahn vermutet ähnliches: Die Ost-Kinder seien wahrscheinlich deshalb besser vor Allergien geschützt, weil sie früher in Krippe und Kita gekommen seien und/ oder mehr Geschwister haben und deshalb mehr Infekte durchgemacht hätten. Seine These: Je behüteter ein Kind aufwachse, fernab von Kitabetreuung und Nachbars Schmuddelkindern, desto anfälliger sei es für Allergien.

Aber Vorsicht: Die Konsequenz, den Nachwuchs feste im Dreck wühlen zu lassen, kann auch danebengehen. Denn die Erkenntnis, daß Umweltgifte Wegbereiter für Allergien sind, ist keinesfalls entkräftet. Das belegt zum Beispiel eine Studie aus dem Ruhrgebiet, wonach die dortigen Kinder deutlich höher allergisch sensibilisiert sind als anderswo.

Pech für die Allergiker, daß die Ursachenforschung so kompliziert ist. Wenn allein der Autoverkehr schuld wäre, fiele es der Gesellschaft wohl nicht mehr ganz so leicht, über Millionen von Betroffenen hinwegzusehen. So aber gibt es für diese immer noch keine schlagkräftige Lobby, und die Eltern kranker Kinder müssen halt sehen, wie sie individuell zurechtkommen. Und das bedeutet: Streß.

Erstens Streß, den die Krankheit selbst verursacht: Das Kind kratzt sich womöglich blutig oder hat nachts Erstickungsanfälle. Zweitens Streß durch die Einschränkungen im Alltag: Das Kind braucht eine aufwendige Diät. Drittens Streß, den die vielen schlechtinformierten Zeitgenossen den geplagten Eltern bereiten, wenn sie die möglichen Entstellungen des Kindes kommentieren. Und viertens Streß, im Wettlauf mit der Zeit den richtigen Arzt und die richtige Behandlungsmethode zu finden. Vor diesem Hintergrund ist es ein Skandal, daß Berlin mit seinen Hunderttausenden von Betroffenen nicht einmal eine einzige professionell arbeitende Beratungsstelle für hilfesuchende Eltern vorweisen kann.

Berliner Hilfsangebote

Ein Antrag der Arbeitsgemeinschaft allergiekrankes Kind (AAK), eine solche Beratungsstelle in bereits vorhandenen Räumen in Kreuzberg einzurichten, zwei halbe Stellen zu finanzieren und damit das ausgelaufene Modellprojekt „Pinguin Pinky“ weiterzuführen, wurde von der Senatsverwaltung für Gesundheit aus finanziellen Gründen abgelehnt. Der regionale Ableger der bundesweiten AAK, dem alle Eltern gegen einen geringen Mitgliedsbeitrag beitreten können, arbeitet nun wie bisher ehrenamtlich weiter. Gisela Nickel (Telefon 6619422) bietet Telefonberatung zum Thema Neurodermitis an, Barbara Deicke (Tel. 6611799) zum Thema Asthma.

Ebenfalls auf ehrenamtlicher Basis arbeitet der Verein Allergie- und umweltkrankes Kind e.V. Anders als bei der AAK sind seine Mitglieder auf eine spezielle Therapie festgelegt, das sogenannte „Gelsenkirchener Behandlungsverfahren“. Die zumeist schwerkranken Kinder und ihre Eltern werden in einer Klinik in Gelsenkirchen nach einem von Prof. Stemmann entwickelten ganzheitlichen Konzept in die „drei Säulen“ der Therapie eingewiesen: strenge vegetarische Diät, Entspannungsübungen und psychische Stabilisierung. Der Verein bietet montags von 19 bis 20 Uhr eine Telefonberatung an (Tel. 6063783).

Auch die Umweltberatungsstelle Berlin e.V. (Tel. 8618778) berät Eltern – allerdings nicht medizinisch, sondern zum Thema Ernährung, Ökospielzeug und Wohnungseinrichtung. Empfehlenswert: die Broschüre „Berliner Einkaufstips für Allergiker“. Ute Scheub