Früher herrschte in Südafrika Apartheid. Erst heute stellt sich heraus, daß damals alle dagegen waren. Aber irgendwer muß doch dafür gewesen sein? Oder ist Steve Biko auf Seife ausgerutscht? Eine Vergangenheitsbewältigung Von Pieter-Dirk Uys

Friedlich liegt die Katze neben dem Hund

Südafrika hat sein „Nürnberg“ erreicht. Die Bösen wurden abgewählt. Die Guten sind an der Macht. Aber wo sind all die Bösen nach 40 Jahren Apartheid geblieben? Keiner weiß es. Fragt man nach, erinnert sich niemand mehr, wer sie eigentlich waren. Leidet das ganze Land an politischem Alzheimer? Leben wir in einem Land voller Oskar Schindlers?

Alle haben die Apartheid bekämpft! Jeder von uns war gegen das System! Nur konnte man eben die anderen von seiner Opposition nicht wissen lassen. Diejenigen, die sich durch den Speck des Landes fraßen, sie sind nun die ersten neuen Genossen mit geballter Faust und dem Schlachtruf „Viva Mandela!“. Heute ist Heuchelei die Vaseline des politischen Verkehrs.

Man sagt, wenn sich die Geschichte wiederhole, dann als Farce. Wer ähnliches in Europa durchlebt hat, weiß, wovon ich rede. Es ist ja inzwischen bekannt, daß einige Leute in Deutschland für die NSDAP stimmten, obwohl sie 1945 oder 1955 oder 1965 oder 1975 genauso unauffindbar waren wie heute in Südafrika die burischen Nationalisten. Besonders verwirrend ist, daß der Führer unserer Nationalen Partei plötzlich seinem eigenen „Reich“ als erobernder Eisenhower gegenübersteht. F. W. de Klerk persönlich holte den Feind aus dessen Zelle und überreichte ihm die Krone. Unsere Regierung der Nationalen Einheit besteht nun aus dem Afrikanischen Nationalkongreß und der Nationalpartei, also aus Feuer und Wasser. Die Guten kamen frei, die Bösen wurden neu geboren.

Friedlich liegt die Katze neben dem Hund.

Wie geht das? Haben wir uns gefragt. Aber nicht zu laut, denn man könnte ja den Hund oder die Katze wecken, und dann flögen die Fetzen. Also flüstern wir: Gab es einen Deal? Wieso tragen die Leute, deren Arme bis zu den Ellbogen blutverschmiert sind, jetzt rote Handschuhe? Wieso formulieren ausgerechnet die, die jeden Funken Opposition durch Propaganda, Polizeibrutalität und Mord auslöschten, die neue demokratische Politik von Wiederaufbau und Entwicklung? Glücklicherweise schwimmen in diesem neuen gesunden Ozean nicht sehr viele der alten Krebszellen. So kommt die Bildung der „Wahrheitskommission“ nicht überraschend. Von Nelson Mandela und über sein Kabinett voller außergewöhnlicher Männer und Frauen, die die bitteren Tränen der Unterdrückung kennen, erreicht uns nur eine Botschaft: „Vergeben, aber nicht vergessen!“

Vergeben – das mag jeder gern. Wir Weiße sind überglücklich, daß man uns unsere vergangenen Verbrechen entschuldigt, daß man uns mit Mord und Totschlag davonkommen läßt. Und man eine solch außerordentliche Chance zum Neuanfang bekommt. Aber das Nichtvergessen, das hat man darüber offenbar vergessen. Viele Weiße sind immer noch taub. Ja, wir haben Steve Biko umgebracht, das wissen wir. Ja, wir haben so viel Schreckliches angerichtet. Ja, ja, ja! Aber es waren doch keine sechs Millionen! Wir haben nur ein paar tausend umgebracht, und das nur, um den Kommunismus zu bekämpfen! Und haben wir sie überhaupt umgebracht, oder sind sie nicht doch auf der Seife in der Dusche ausgerutscht? Auf ihr ausgeglitten? Über sie gestolpert? Sind im Polizeihauptquartier aus dem Fenster gefallen? Haben sich aus Versehen aufgehängt?

Irgend jemand muß doch dabeigewesen sein und diese Entscheidungen getroffen haben! Noch viel mehr müssen sie doch ausgeführt haben! Aber was sollen wir tun? Auf der Straße Hüte mit Hörnern tragen? So wie andere Menschen einst gelbe Sterne? Wenn die alten Führer jetzt mit mehr Rente denn je herumsitzen – hat eine neue Generation nicht das Recht, zu fragen, was diese alten Krieger taten, bevor sie zu jenen elder statesmen wurden, als die sie sich heute verstehen?

Die Guten haben häßliche Akten über die Bösen. Die Bösen hüten die schrecklichen Geheimnisse der Guten. Gib mir deinen Eichmann, dann kriegst du meinen Mengele. Die falsche Richtung wurde eingeschlagen, als man Mörder zu politischen Häftlingen deklarierte und ohne Bedingung entließ. Etwa Barend Strydom, einen christlichen weißen Nazi, der in Pretoria kaltblütig siebzehn Schwarze umgebracht hatte. Jetzt ist er ein freier Mann und sagt, seine Handlungen seien politisch motiviert gewesen. Zugleich bekam auch die andere Seite ihr Pfund verfaulten Fleisches. Robert McBride, ANC-Terrorist und heute Politiker, ließ einst in einer Bar eine Bombe hochgehen, die Menschen tötete. Er sei auch unschuldig, sagt er. Politisch motiviert. Die Gefängnistore öffneten sich. Heute sind die Straßen voller politisch Motivierter. Mörder. Manche sitzen sogar im Parlament. Vom alten Regime. Auf den Rängen der Neuen. Manche sind im Diplomatencorps. Manche sind draußen und befehligen Polizei und Armee. Nicht alle sind Gute. Manche der Bösen sind auch noch da.

Unser bemerkenswerter Friedensprozeß – er begann, als de Klerk sein blutiges Handtuch warf und mit einem Friedensnobelpreis wieder auftauchte – war eine wunderbare Schulung für Politiker. Die Feder wurde mächtiger als das Schwert. Wir wußten ja nicht, daß alle diese ehemaligen Häftlinge aus dem Gefängnis von Robben Island mit cum laude entlassen worden waren. Wir erbten die älteste Promotionsklasse der Geschichte. Einige hatten 27 Jahre lang gewartet, um den Doktorhut entgegenzunehmen. Sie hatten viel Zeit gehabt, zu überlegen, zu planen, die Fehler der anderen Mächtigen zu überdenken.

Vergeben, aber nicht vergessen! Denn vielleicht kommt es ja nie wieder vor! Willkommen in der sicheren demokratischen Gesellschaft! Erinnern wir uns, wie viele starben, wie viele sich umbrachten, verrückt wurden, ins Ausland flüchteten – und all dies wegen der Gier einer christlichen Minderheit.

In Südafrika geht es heute um viel mehr, als um Rache. Demokratie braucht positive Energien, nicht negative Sühne. Die verbrannte Erde, die Mandela vom Apartheid-Regime erbte, ist eine Wüstenei gebrochener Leben. Die Vergangenheit hat uns keine Sieger hinterlassen. Die Weißen sind genauso verkrüppelt wie die Schwarzen.

Es ist ein Alptraum. Man muß einen Ausweg finden. Ehrlichkeit ist gefragt und nicht Geheimniskrämerei, sondern Öffentlichkeit. Wir haben jetzt eine Gesellschaft, in der wir alle Freiheiten genießen – außer der Meinungsfreiheit! Schließlich sind wir jahrzehntelang ohne Meinungen ausgekommen, und so ist jetzt die Arena öffentlicher Debatte stark eingeschränkt. Es gibt nur Extreme: Die, die die Bastarde aufhängen wollen, und die, die lieber mit den Helden herumhängen.

Während wir noch über den Umgang mit der Vergangenheit streiten, diskutieren wir doch zugleich auch den Umgang mit der Zukunft. Schon beginnt man, die Übergangsverfassung umzuschreiben. In der Eile könnten wichtige Details verlorengehen: Schwulenrechte, das Recht auf Abtreibung, die Freiheit der Rede, des Ausdrucks, der Wahl des Lebensstils. Vergangenheit läßt sich leicht abschütteln – aber die Einstellungen, die den Erfolg der Apartheid ermöglichten, sie leben weiter: Intoleranz. Angst. Neid.

Ich habe einen Alptraum. Die neue Wahrheitskommission tagt. Adolf Hitler erscheint. Er ist genauso traurig und zerbrechlich wie unsere alten Führer. Sein Schnurrbart hängt an seiner Lippe wie eine tote Maus. „Adolf Hitler“, rufen die Guten, „Sie sind des Mordes an Millionen von Menschen schuldig!“ Er schüttelt den Kopf und hält sein Profil in die CNN-Kameras. „Nein“, sagt er leise, „ich bin nicht schuldig. Ich verlange eine Amnestie. Meine Taten waren politisch motiviert...“

Übersetzung: D.J. und A.S.