Havel: Aussöhnung in einer offenen Gesellschaft

■ Plädoyer für neue Beziehung BRD–Tschechien

Prag (taz) – Václav Havel hat die Bevölkerung Deutschlands und Tschechiens aufgefordert, sich zur Idee der „Bürgergesellschaft“ zu bekennen. In einer rund einstündigen Rede, die der tschechische Präsident gestern in der Prager Karls-Universität hielt, versuchte der Bürgerrechtler, mit der Idee der Bürgergesellschaft den derzeitigen Stillstand der deutsch-tschechischen Beziehungen zu überwinden. Nur eine offene Gesellschaft ermögliche eine Aussöhnung der beiden Nationen, nur durch sie könnten die „geistigen Früchte des Nationalismus“ bekämpft werden.

Václav Havel sprach über Fehler und Versäumnisse der tschechischen und deutschen Bürger in ihrer gemeinsamen Geschichte. Deutlich wie selten zuvor erläuterte er seine Position: „Wir können die Vertreibung nicht aus ihrem geschichtlichen Kontext lösen. Wir können sie nicht getrennt sehen von all den Schrecken, die sich davor abgespielt haben.“ Die Tschechen hätten sich zwar vom Virus der ethnischen Auffassung von Schuld und Bestrafung anstecken lassen, sie hätten diesen jedoch nicht ins Land gebracht. Selbstkritisch gestand Havel ein, daß er diese Darstellung der Ursachen der Vertreibung in früheren Reden vernachlässigt habe. Daß sich diese Selbstkritik auch auf seine von manchem Deutschen falsch verstandene Entschuldigung bei den Vertreibungsopfern bezieht, ist wahrscheinlich. Denn anschließend wendete sich Havel in seiner Rede gegen alle Versuche, die Nachkriegsordnung Europas in Frage zu stellen. Auch wenn die Vertreibung etwas „Böses“ war, eine Entschädigung für ihre Opfer lehnte der Präsident entschieden ab. Schließlich seien auch die Tschechen „nicht so töricht“, den heutigen Generationen Deutschlands Rechnungen für das Unrecht zu senden, welches einige ihrer Väter und Großväter begangen haben. Havel kurz und knapp: Wir dürfen die Vergangenheit nicht vergessen. Unsere Zukunft liegt aber nicht in unserer Vergangenheit. Sabine Herre Seite 10